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Montag, 29. November 2010

Schamlose Wahrheiten

Ach ja, man vergaß - wir leben im Zeitalter der Offenheit, der Aufdecker, des investigativen Journalismus. Der nun auch die "Hintergründe" und geheimsten Gedanken amerikanischer Diplomatie an die Öffentlichkeit zerrt. Wochenlang wahrscheinlich haben die Zeitungen nun noch Stoff, um Sensationen auszubreiten. Man wollte dies, man sollte das, dachte hier so, dort so.

Es ist Hölle, wo es keine Integritäten mehr gibt, sondern nur noch gefledderte Leichen, zerstückelte Ganze, Einzelteile, vor allem aber: wo es keine Geheimnisse mehr gibt. Und Geheimnisse sind ein seltsam Ding. Sie sollen nämlich nicht nur nicht an die Öffentlichkeit gelangen, sondern sie wollen das gar nicht. Denn der Umgang miteinander baut auf Vergessen auf, baut auf einer Ganzheit und auf einer Ordnung auf, die wir setzen, und deren wir normalerweise nicht bewußt sind. Und nachdem ohnehin kein Außen ohne Innen besteht, jedes Außen alles enthält, was das Innen birgt, ist genau das das Maß der Kultur.

Enthüllungen schamlosester Art helfen nicht, eine Sache besser, klarer, wirklicher, oder wahrer zu sehen. Sie tragen nur dazu bei, die Welt zu zerstören, und sie in diesem Fall so wichtiger Dinge wie zwischenstaatlicher gestalteter Beziehungen zu berauben. Sie werfen an den Anfang zurück, ins Badland, in die Wüste, ins ordnungslose Chaos.

Wikileaks zeigt uns also nichts Erhellendes, nichts Befreiendes, nichts Neues. Sie zeigen uns nur, was man im Zeitalter der Computer und des Internets mit uns anstellen kann und wird, wie sehr man uns schaden kann, mit Information generell, indem man nach Belieben alle konkreten Gestalten, die unser Leben angenommen hat und annehmen soll, durch "Information", der man ihren Platz nimmt, überschwemmt, und damit zerstört. Wikileaks zeigt, wo wir uns nach und nach alle wiederfinden werden - in der Hölle völliger Entblößung, in der Hölle einer gestaltlosen Welt. Von Menschen, die edle Gesinnung vortäuschen, in Wahrheit aber pervers und schamlos sind.

Menschen, ja generell Organismen, die ihres letzten Schutzes, der Gestalt bedeutet, beraubt sind, werden unberechenbar, sie stehen wirklich mit dem Rücken zur Wand. Jeder Atemzug wird nur noch auf eine Spitze gedrängt: der des unmittelbaren Überlebens. Das Wahren der Diskretion, des Abstands, des Respekts, ist keine Holschuld des "Opfers", sondern eine Bringschuld des Täters. Wer die Dinge aus allen Zusammenhängen reißt, und meint, ihre Bestandteile wären mehr wahr als ihr Ganzes, ist nicht nur unwissend und dumm, sondern zerstört die Dinge und damit die Welt.

Das Leben ist eben keine digitalisierte Rechnung aus Informationswerten. Diesen Unsinn hat man sich lange genug eingeredet, weil er bequem und anarchisch ist, gut für alle, die zwar keine Macht zum Guten, aber zum Zerstören haben. Es gibt da auch keine "gute" und "schlechte" Information. Der Zerstörungsvorgang liegt auf einer anderen Ebene, auf der des ganzen Lebens eben, und er ist nicht wieder gutzumachen. Zumindest nicht im Maß des Menschen.

Aber so wird sie wohl aussehen, die Zukunft. Schamlos, unbarmherzig, brutal. Ziehen wir uns warm an.


*291110*