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Freitag, 13. Mai 2011

Dinge, die man nicht sehen kann

Die Presse bringt ein ausgezeichnetes, aspektreiches Interview mit dem deutschen Bildhauer Tony Cragg, das hier gekürzter Form wiedergegeben wird, denn es sollte archiviert werden.


T. Cragg -
Skulptur im Präsidentengarten
Tony Cragg: Man muss sich von der Idee verabschieden, Skulpturen als Statuen zu betrachten. Statue – ein schreckliches Wort, weil es statisch bedeutet, also eingefroren oder tot. [...] Es sind elliptische Kolumnen [...] – es brodelt, es fließt.
Das ist harte physische Arbeit. Kein Wunder, dass bei Ihnen im Studio so viele Männer arbeiten. 
Wir haben auch drei Frauen, und das ist wichtig. Zum einen hält es die Jungs in Schach, zum anderen sind Frauen fantastisch, wenn es darum geht, ein Werk perfekt zu machen. Es ist einfach, einen Job zu 90% zu machen; bei 95 % wird es schwierig; bei 99 % geben die meisten auf, weil es qualvoll ist. Diejenigen, die durchhalten, sind die Frauen.
[...]
Computer benutzen wir nur zur Visualisierung, denn dem Computer fehlt es an Poesie: Wenn du mit einer Maus auf einem Notepad arbeitest, bist du automatisch in die Knie gezwungen durch das, was das Programm kann. Die Pixel, die Bits und Bytes, die dir zur Verfügung stehen, sind Parameter der Mentalität eines Dritten, des Programmdesigners. Bleistift und Papier dagegen geben dir enorme Freiheiten. Die Zeichnung kann dich überall hinführen. Sehen Sie sich um, unsere Umgebung ist von Industriedesign dominiert, das ist langweilig, vage und irgendwie verschmiert.
Ist der Begriff Skulptur zu eng gefasst?
Als ich Student war, in den 1960ern und 70ern, war es Mode, jede Definition in die Länge zu strecken. Jemand saß zwei Stunden auf dem Sessel, und das nannte man Tanz, einer schmiss eine Axt aufs Klavier, und das war Musik. War das konstruktiv? Ich weiß es nicht, aber es ist wichtig zu fragen, was Skulptur ist, weil wir Unmengen von Dingen mit ihr machen können. Wenn jemand ein industrielles Objekt ins Museum stellt und es zur Skulptur erklärt, sage ich, soll er es machen. Aber es ist keine gute Skulptur, es ist nur eine Geste. Eine gute Skulptur ist eine, bei der das Material bearbeitet wurde wie nie zuvor. Ich interessiere mich für Material, weil ich selbst Material bin, alles ist Material.
Soll Skulptur einen praktischen Zweck erfüllen oder schlichtweg dem Auge gefallen? 
Ich glaube nicht, dass sie dem Auge gefallen muss. Ästhetik für mich ist keine Frage von Schön oder Hässlich. Ästhetik ist ein Bewertungssystem, das wir zum Überleben nutzen. Wir treffen unentwegt ästhetische Entscheidungen – über die Umgebung, in der wir leben, über die Leute, die wir treffen, über unser Essen. Ich will Dinge schaffen, die uns mehr über die Strukturen verraten, in denen wir leben. Aber ehrlich, ich denke nie an den Betrachter. Ich bin zu sehr mit meiner eigenen Betrachtungsweise beschäftigt. Ich bin kein Designer: Designer haben das Problem, dass sie berücksichtigen müssen, welchen Nutzen andere aus ihrer Arbeit ziehen werden. Künstler machen keine Dinge aus utilitaristischem Prinzip. [...]

Wenn Sie arbeiten, gehen Sie von einer Form aus, die Sie umsetzen möchten, oder versuchen Sie, sich selbst zu überraschen?
[...] Ich gehe also von der simplen Realität aus und baue Schicht um Schicht auf Dingen auf, die ablaufen, die ich aber nicht sehen kann.


*130511*