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Donnerstag, 30. Juni 2011

Erinnertes Sehen

Es ist in jedem Fall ein Irrtum zu meinen, wir würden die Dinge so sehen, wie die Photographie - die nur die Zentralperspektive kennt - sie abbildet. Wir erfassen Punktmengen, und tasten dann das Bild ab, das sich in unserem Geist allmählich zu einem Bild, zu einer Wirklichkeit zusammensetzt - an die wir uns bei der Photographie lediglich erinnern! Denn die Photographie hat nur die Referenz auf Tatsächliches, sie kann ohne das Objekt nicht bestehen. Das Kunstwerk aber will eine für sich bestehende, geschlossene Welt entstehen lassen. Auf Photos reagiert man deshalb zweitwirklich, in der Vorstellung, sie wirken deshalb als Sentimentalität.

Die Begegnung mit dem Kunstwerk ist aber wirklich, sinnlich, die Begegnung mit einer für sich bestehenden Welt, die von mir getrennt ist.

Die Frage nach der Kunsthaftigkeit von Photographie - und nur dann hat sie diesen Sinn, wenn man Kunst als die Steigerung des Lebens in den Geist hinein (nur dort kann man von Schöpfung reden) versteht -entscheidet sich also am Punkt, ob es gelingt, mit dem photographierten Bild (und ich spreche da auch vom Film) etwas wesentlich anderes zu schaffen, als Sentimentalität - eine Welt.

Wenn man den letzten Film von Charles Chaplin, der sich ja lange geweigert hat, den Tonfilm überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, denn der sei keine Kunstform mehr, ansieht - "Die Gräfin von Hongkong"/"A Countess from Hong Kong" (1966) - wird deshalb auch klar, daß Chaplin sich höchst vorsichtig heranzutasten versuchte. Mehr als verfilmtes Kammerspiel gelang ihm mit dieser seiner letzten Arbeit nicht. Man spürt aber ständig, wie Chaplin mit genau dieser Frage ringt. Und die schnitttechnischen Unvollkommenheiten, die Brüche in gar nicht wenigen feinen Anschlüssen, die auf Filmkenner "dilettantisch" wirken könnten, erscheinen mir als für ihn unverzichtbare Illusionsbrüche, mit denen er diese Sentimentalität verblasen wollte.

Photo Sally Mann / everyday_i_show


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