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Freitag, 17. Juni 2011

Unlösbare Widersprüche

Die Grünen in Baden Württemberg befinden sich mitten in einem Dilemma, meint die FAZ. Denn einerseits, nun an die Regierung gekommen, stehen sie mit dem Gesetz im Bunde, und müssen möglicherweise auch den Stein des Anstoßes - den Mega-Bahnhof "Stuttart 21" - mitttragen. Ausgerechnet jenes Projekt, das zu verhindern sie vor der Wahl angetreten sind! Aber es lief nicht nur alles rechtens, sondern systemimmanente Logiken stellen die Grünen vor eine eigentlich unlösbare Situation: entscheiden sie sich für ihre Regierungsverantwortung, oder für ihre Wähler?

Denn sie geraten mit ihren eigenen Grundsätzen in Konflikt: während die Taktik der Grünen war und ist, daß das Gesetz schlecht, der Bürger immer gut ist, daß Gesetzes- und Systemkonformität eben in Situationen führen kann, die NICHT mehr gut sind, die abzulehnen sind (und im Grunde hat der Protest der Grünen ja den Charakter einer Systemrevolution), stehen Sie nun plötzlich in der Situation, gegen ihre eigene Regierungsverpflichtung den Rechtsstaat in Frage zu stellen oder: stellen zu sollen.

Die Schlichtungsprozesse dürften wenig fruchten - große Teile der Protestbewegung werden kein Ergebnis akzeptieren, das nicht lautet: KEIN neuer Bahnhof. Rechtsstaatlich würde selbst bei einem Baustop der Deutschen Bahn eine Milliardenbelastung auf das Land zukommen. Eine Demokratie kann aber nur funktionieren, wenn alle Beteiligten rechtliche bzw. verrechtete Prozesse akzeptieren, auch wenn sie gegen ihre Intention ausgehen! Schon läuft auch innerhalb der Grünen ein erster Spalt: ihr eigener Verkehrsminister in Baden Württemberg spricht gleichfalls von einer Unverbindlichkeit der derzeitigen Schlichtungsverfahren, wiewohl diese bereits bestehendes Recht "umgehen", oder: moderater gestalten sollen, kein offizielles Rechtsmittel darstellen. Die Bahn wäre dazu sowieso nicht verpflichtet!

Wobei der Bahn-Chef es sich nun nicht verkneifen konnte, den Grünen "Volksverdummung" und Täuschungsabsicht bei der Wahl vorzuwerfen: sie hätten gewußt, daß alles rund um den neu zu bauenden Stuttgarter Hauptbahnhof rechtens gewesen war, es also - rein rechtlich - gar keinen Ausstieg mehr gebe. Diese Hoffnung aber hätte man bei den Wählern geweckt!

Der Protest der Grünen in Stuttgart und anderswo ist aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert. So wie fast alle übrigen Proteste in Europa, sind es Proteste GEGEN das System. Sie sind Anrufe an die Regierungen, generelle Richtungsänderungen vorzuschlagen, weil die bisherigen Wege in ein Leben geführt haben, das in seiner ihm eigenen Logik nicht mehr wünschenswerte Ergebnisse erzielt. In Europa will man also eine Zertrümmerung bestehender Systeme, ja es läuft auf eine Zertrümmerung des Rechtsstaates hinaus, dessen Kriterien als ungenügend empfunden. Nur: das läßt einen Staat auseinanderbrechen! Wenn sich die Bürger von seiner Systemlogik keine Gerechtigkeit (nach ihrer Facon) mehr erwarten.

Nahezu spiegelverkehrt - wenn auch in anderer Hinsicht die exakt gleiche Bewegung: das staatliche System erfüllt nicht mehr subjektive Rechtsvorstellungen - ist dagegen die Situation im arabischen Raum oder in Nordafrika. Und das wird gerne übersehen, wenn Romantiker hierzulande eine große Weltbewegung erblicken wollen. Dort WILL die protestierende Bevölkerung genau jenen Rechtsstaat, der hierzulande längst abgelehnt wird. Dort WILL die Bevölkerung jene Verrechtung des Lebens, ja dort WILL sie vor allem (!) auch jene Modernität, die in unseren Breiten zunehmend als Lebensbedrohung empfunden wird. Es wächst tatsächlich hierzulande der noch wenig artikulierte, aber immer deutlicher gefühlte Wunsch, ANDERS zu leben als bisher, sodaß sich die Natur unserer Staaten und Länder mehr und mehr in zwei unvereinbare Richtungen aufspaltet. Die einen, die das bestehende System weiter ausbauen wollen, die anderen, die genau das nicht wollen, die es sogar reduzieren oder gar zerstören wollen.

Vielleicht ... tauschen wir einfach die Länder bzw. die Bevölkerungen aus? Vielleicht ist die Migrationsproblematik, die Europa kaum noch bewältigen kann, genau das.

Es fehlt, höre ich dann manche, nur noch die Gegenbewegung - von Europa WEG. Wirklich? Daß wir uns da nicht täuschen: auch die gibt es! Ich kenne nur die Zahlen von Deutschland, aber dort ist es bereits signifikant, daß jährlich Zehn, ja Hunderttausende - und vor allem: bestens Ausgebildete! - das Land verlassen, während die Lücke, die sie hinterlassen, mit Zuwanderern aus mehr oder weniger obgenannten geographischen Zonen gefüllt werden. Ähnliche Vorgänge hört man längst aus vielen weiteren Ländern!

Der Grund, warum hierzulande noch keine größere Auswanderungsbewegung stattgefunden hat, hat v. a. bei jungen Menschen heute systemimmanente Gründe - sie sind, sagen wir es schlicht: verwöhnt, sie sind träge und feige geworden. Aber wer wenn nicht die Jugend sollte auswandern, die doch noch alles aufzubauen hat? Die doch ohnehin bereits so entwurzelt mit "globalisierten Wertevorstellungen" aufwuchs. Aber wenn auch noch nicht, so sind es nach und nach die Alten, die das Kribbeln verspüren, noch einmal etwas zu versuchen ...

Da findet also vermutlich bereits eine Bewegung statt, die von uns lediglich in seiner historischen und globalen Dimension noch nicht überblickt wird, und die noch nicht wirklich geboren werden will. Auch wenn die Wehen längst eingesetzt haben.

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