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Donnerstag, 23. Juni 2011

Von Schiff zu Schiff steigen

Das wissenschaftliche Wirklichkeitsmodell gleicht einem riesigen Flickwerk aneinandergenähter Flecken. Und das ist keine Schwäche, sondern das kann gar nicht anders sein, wollen wir uns nicht einer reinen Theorie und Scholastik unterwerfen, und die Erfahrung begrenzen.

Reine Denkprozesse laufen immer innerhalb bestimmter Bezüge ab. Und wir können uns diese Bezüge jeweils nur in bestimmten begrenzten Rahmen vorstellen. Es gibt nicht "den Raum" einer Sache, sondern jedes Ding hat seine Bezüge, die wir wiederum in Subjektivität erfassen und bemerken. Erkenntnisse sind also immer nur innerhalb eines bestimmten Denkstils möglich. (Wobei der Hinweis auf Ludwik Fleck erlaubt sei: es gibt keine wissenschaftlichen stringenten Denkprozeß; es gibt Denkstile, innerhalb deren bestimmte Hypothesenstrukturen unter bestimmten Bedingungen errichtet werden.)

Wichtig für uns ist, daß wir jeweils ein Schiff wirklich besteigen, schreibt Florenski. Sobald wir an neue Erfahrungen stoßen, können wir wechseln. So lange aber müssen und sollen wir analytisch richtig vorgehen. Dann gibt es keine Willkür mehr, dann müssen wir der Logik und den gewählten Bedingungen treu bleiben. Und genauso logisch und analytisch kann (und muß) dann das Umsteigen auf ein anderes Schiff erfolgen - nicht verschmelzend, aber analytisch von einem zum anderen. Wir können nicht springen, und wir können auch nicht alles auf einmal haben! Wir müssen wählen! Und mit dem begrenzten Schiff, mit dem wir unterwegs sind, müssen wir dann auch alle Stürme und Unbill teilen, sonst werden wir es nie verlassen können.

Es ist gleichgültig, ob wir uns z. B. eine Gerade als Lichtstrahl vorstellen, oder als Stab der ins Weltall ragt, oder als gespannten Faden ... Jedesmal aber denken wir bestimmte Bedingungen mit. OHNE solche geht es nicht. Das ist auch nicht das Problem. Das Problem wäre, es nicht zu wissen, und damit zu verabsolutieren. Diese Bedingungen müssen wir mitdenken, mitwissen, sonst laufen wir Gefahr, daß unser Denken den erfahrenen Eigenschaften (einer Geraden) widerspricht.

Wir haben KEINE Möglichkeit zu beurteilen, ob die Gerade wirklich gerade ist, denn sie ist unser Begriff von Gerader - gerader geht es nicht! Was immer an Erscheinungen auftritt, fügen wir unserem Begriff von Gerade hinzu: was immer auftritt, schreiben wir zwangsläufig den Besonderheiten des Raumes zu. Indem wir uns auf diese Gerade festlegen, sind wir gezwungen, dem umgebenden Raum für so beschaffen zu halten, daß Gerade in ihm die erwähnten Eigenschaften aufweisen.

Sonst kann man keine Weltvorstellung aufbauen - man muß einige Gesetze "setzen". Zumindest bis zu einem neuen gesetzgeberischen Akt (s. o.: beim Schiffwechsel). Keineswegs dürfen die Grundlagen unbewußt und stillschweigend vertauscht werden. Dann träte Verwirrung auf, aus Denken würde Chaos.

Selbst, wenn man einen Fehler entdeckt hat oder vermutet, ist es vernünftiger, bei derselben Methode zu bleiben - immerhin hat man in ihr und durch sie Zweifel bekommen - als eine neue Meßmethode anzunehmen, die in jedem Fall unbekannte Rahmenbedingungen hat.


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