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Samstag, 9. Juli 2011

Vaterlos - formfeind - schrullig

Ein Filmchen von Samuel Syrop, das ich am Blog Glaserei fand, auf Vimeo gehostet, über einen schrulligen New Yorker: der Mann hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht,  sich jeden Tag um Punkt 14.00 Uhr eine (unbedeutende) an eine Straßenkreuzung zu stellen und das Leben dort zu regeln. Er ruft die Zeit aus, "kümmert sich" um alles und jeden. Angeblich gibt es in dieser Stadt viele solcher Typen, die man durchaus als ein wenig verrückt bezeichnen könnte. Denn mit Individualität und spezieller Schöpferkraft hat das nichts zu tun. Aber es ist rührend, es ist bewegend, und es erzählt viel.

In einer Welt, die kein Insgesamt kennt, die keine Ordnung darstellt, wird niemandem ein Platz zugeteilt. Aber um sich zu definieren, braucht der Mensch einen Platz, er braucht einen Raum, einen "Titel", der ihm sagt, auf welche Identität hin er sein Tun ausdeuten und gestalten soll! Das passiert aber in New York nicht. Die Menschen verlieren sich also. Und suchen sich wiederzufinden, indem sie sich einen Platz - und sei es, wie hier, noch so willkürlich - erfinden. Wissen Sie, was ich meine? Daß das an sich oft die wertvollsten Menschen sein können, wo es traurig macht, daß ihnen nur die Verrücktheit blieb: ihr Ort, der sie definiert, liegt im Niemandsland ... Es ist die Geschichte einer menschlichen Kraft, die ungebunden blieb und bleibt, aber sich entladen will.

Und gerade in diesem Zusammenhang ist eine Aussage interessant, die Johny Votta, den manche "The Timekeeper" nennen, etwa in der Mitte des Films macht. "I hated my father, I didn't like my father." Fast hätte ich es überhört, aber es nimmt dann einen immer größeren Teil ein: "He wanted to be God. He tried to keep me down." Und plötzlich erschließt sich der Sinn des in 12 min Gezeigten, zeigt sich der Mann als Besonderes eines Allgemeinen, verlor seine Undeutbarkeit, sein aussageloses Schrulligsein. Wo das Väterliche abgelehnt wird, wo der Mensch in der Mutter bleibt, wird Form zum Feind, zur "Zerstörung" (der Nestwärme). Zurück blieb sinnlose Gefühligkeit, formlose Kontur die zur irrationalen, belächelten Schrulligkeit gerät, die man nicht ernst nimmt - was man gerne für Toleranz hält. Wie sie für zu geringe Durchdringung von Form typisch ist, auch in anderen Kulturkreisen der Welt, die aber wie sich oft rasch herausstellt alles andere als tolerant sind, sobald sie mit wirklicher Kontur zu tun haben. Und in dieser synkretistischen Stimmung, die alles zum Feind hätte, was die Auflösung im Allgemeinen nicht zuläßt, verbringt der nun 68jährige Mann sein Leben. Der - auch das erschließt sich dann - gleich am Anfang sagt: Er sei eigentlich 28. Noch weniger wagt er wohl nicht zu sagen, denn dann wäre der Widerspruch zu seiner Körperlichkeit zu groß.

Dennoch bleibt natürlich der Antrieb des Menschlichen, Gestalt zu nehmen, zu werden! Aber Individualität, die sich ihre Ordnung selbst entwirft, wird lediglich Schrulligkeit, ja Verrücktheit.

Es sind die Väter, von denen die Ordnung gesprochen wird, und dies ist ein prinzipielles Gesetz, kein Gesetz der Inhalte. Matriarchale Gesellschaften sind historisch belegt immer ordnungslos, Ordnungslosigkeit bringt die Unbestimmtheit des dunklen, unbefruchteten Mutterleibs, zu dem alle verschmelzen, und immer weiter absinken - bis ins Nichts. New York, unsere Welt, ordnungslos, vaterlos, als zunehmend amorphe, logosfreie Dumpfheit - am Weg zum Nichts. Solche Typen, sagt Syrop. wären so typisch für New York ... so viel Aussage über die Stadt und die USA hätten wir kaum erwartet.

Der Originaltext des Filmemachers lautet: This short documentary is a portrait piece about Johnny Votta, who is known by many as The Timekeeper. Everyday at exactly two o’clock he aggressively commands the same intersection by belting out the time and ordering pedestrians and cars to stop and go when signaled. However, no one pays Johnny for the work he does and most people barely pay him any attention. He is just seen as one of the many strange and mysterious characters that New York City has to offer.

Although this movie may just be a taste of who the real Johnny is there’s no doubt that it serves as a meaningful expression of one’s true character told from his own words and experiences.




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