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Sonntag, 16. September 2012

Die Zukunft der Illusion

Wenn Politik sich als Ding für sich zu entwickeln beginnt, schreibt Rolf Kühn in "Subjektive Praxis und Geschichte", verliert sie ihre eigentliche Legitimation. Deshalb kann die moderne Demokratie gar nicht anders enden als in der Unmöglichkeit zur Politik, die Länder werden unsteuerbar, Politik wird zur Illusion. 

Was sich vorderhand darin äußert, als sich nationale Politik in eine auch geographisch höhere Ebene der Metapolitik auflöst weil flieht, ein Refugium sucht, in dem sie ihre Illusion aufrechthalten kann. In der aber das Wesen des Politischen bereits aufgelöst wird. Denn hier wird Politisches zur Abstraktion von Wirkungen, die selbst wiederum als politische Ziele fungieren. Wo eine politische Klasse, die sich in ihrer Art zu wirken auf eine neu herangezogene Gesellschaftsschichte beruft, die aus Menschen besteht, die selbst bereits dem Leben entfremdet nicht mehr ihr Leben selbst vollziehen, sondern als Ablaufoptimierung der abstrakten Mechanismen versteht. Im besonderen dient "Bildung", die solch eine politische Klasse initiiert und lenkt, der Schaffung eines solchen lebensentfremdeten Schichte: als "gebildet" gilt, wer diese Mechanismen inhäriert hat. Wer bereit ist, seinen eigentlichen Lebensvollzug aufzugeben. Mit Akademismus und Verwaltungsapparaten, die immer mächtiger werden, werden die Lebensinteressen dieser Leute konkret gebunden, und über sie der Zusammenhalt innerhalb dieser Klasse gesteuert.

Wenn man dann davon spricht, mehr den Menschen aufs Maul schauen zu wollen, so ist das bestenfalls Ausdruck des gefühlten fundamentalen Mangels. Angeisichts der immer mächtigeren Mechanismen, die EU-weit installiert werden, und die sich aus der von ihnen selbst geschaffenen Logik heraus selbst fortpflanzen und motivieren, besteht kein Zweifel, daß es zu einer immer tieferen Kluft zwischen der "einfachen Bevölkerung" und der politischen Klasse kommt. Was mit "Politikverdrossenheit" wie eine Krankheit qualifiziert wird, die es durch motivierende Maßnahmen zu beseitigen gälte. Jede Idee der Stärkung der direkten Demokratie fällt darunter, und wird doch nichts verändern. Volksbefragungen, Volksabstimmungen werden zu Instrumenten, mit denen man versucht, von oben her auch die Individuen zu binden, indem man sie (scheinbar) mit Verantwortung belädt: "Ihr habt es ja so gewollt!" Indem man die Menschen dazu verführt ihre Meinung zu Angelegenheiten zu bilden, mit denen sie in Wahrheit nichts anfangen können. Die nur unter jenen Schichten bestehen, die selbst in diese abstrakten Ebenen bereits - vor ihrem je subjektiven Leben - geflohen sind.

Die Kluft in den europäischen Völkern wird immer größer werden, bis die Gewalt immer expliziter werden muß, um das "Ganze" noch zusammenzuhalten: als Organismus, der von einer Schichte befehligt wie beherrscht wird, und der sie auch nur noch dient, die sich selbst - obwohl sie zahlenmäßig beträchtlich ist - an die Wand drückt. Es ist nämlich das Leben selbst, das sie an die Wand drückt, und gefährdet.

Und die EU geht auch genau in diese falsche Richtung: indem sie mehr Zentralismus fordert, mehr Steuerung über Abstrakta, mehr Parteienwesen. Während ein Weg

Kein Leben lebt aus Abstrakta heraus. Es ist immer nur der Vollzug der je subjekitiven Lebensaffektion, die sich auf die Realitäten der unmittelbaren Lebensumfelder bezieht. Und deren Ziel das Lebensziel an sich ist - Steigerung der ganz konkreten Lebendigkeit. Ein Lebensvollzug, der zu seiner Aufrechthaltung in Abstrakta schwebt, sich von dort zu nähren versucht, muß scheitern. Das Politische kann nur das Allgemeine, das die realen Lebensvollzüge weitgehend deckt und zusammenfaßt, repräsentieren. Es kann solche Vollzüge aber nicht nach einem Abstraktum "Mensch" schaffen, es muß von diesen Lebensvollzügen ausgehen. Nur von dort erhält auch ein Gemeinwesen seine Kraft, nur aus dieser Gemeinsamkeit kann sich Gemeinschaftsgefühl und -verantwortung bilden. Heutige Politik versucht aber sich jenes Volk, jene Effekte zu schaffen, die den Anforderungen des zum Selbstzweck gewordenen Ganzen genügen. Und fährt mit einer ungeheuerlichen, vermutlich wirklich historisch einmaligen Brutalität über alles drüber, was noch an dieses Leben erinnert. Und sei es mit der Verwandlung von Landschaften in Kraftwerke.

Deshalb ist die weit wichtigere Zahl mittlerweile, die aussagekräftigere, jene der Stimmenthaltungen bei Wahlen. Denn in ihr drückt sich dieses Wissen um die eigentlichen Vitalkräfte aus, auch wenn sie nicht zu Bewußtsein kommen. Aber sie suchen sich ihren Weg. Selbst, wenn die offizielle Politik mehr und mehr zu Zwangsmaßnahmen greifen muß, um diese immer stärker werdende "Aufsässigkeit" zu unterdrücken, die aggressiven Kräfte die aus dieser Lebensverhinderung erwachsen, zu kanalisieren, und die Gedanken der Menschen zu verwirren indem man sie aus ihrem subjektiven Lebensvollzug herausreißt, diesen für ungenügend und irrelevant erklärt, sie aus ihrer Selbstmächtigkeit im immer weiter- und tiefergreifenden Sozial- und Moralstaat löst, um sie dadurch zu beherrschen. 

Doch damit schwächt man erst recht jene einzige Kraft, aus der sich auch die größten Gemeinwesen nähren - die Kraft des subjektiven Lebensvollzugs, die Lust am Leben, die nur im je angrenzenden Lebensfeld generiert werden kann. Daß ausgerechnet die Kirche diese Entfremdung der Menschen stützt und fördert, anstatt ihr bis aufs konkrete Blut Widerstand zu leisten, wird sie so wie die Politik aus den Herzen der Menschen wegfegen. Nur fehlt ihr die reale Macht, um sich - wie die Politik - mit Gewalt aufrechtzuhalten.

Denn dieses Lebensvolle bringt Religiosität automatisch mit sich. Die Religiosität der Menschheit war immer aus diesem Rückbezug auf das Leben "als Gegebenes", als Vorausgehendes, als nur zu Respektierendes gegeben, aus dem Erleben der Abhängigkeit von dieser Macht, die nicht beherrscht werden kann, sondern die beherrscht. Nur darauf aber kann konkrete Religion aufbauen. Und deshalb wird sich, auf den Ruinen der nicht haltbaren derzeitigen Systeme, als Reaktion des scheinbaren Scheiterns eines ganzen Kulturentwurfs, in Europa, ja in der gesamten westlichen Welt, eine neue, irrationale (denn die Kirche ist zutiefst in der Vernunft gegründet) und archaisch-dämonische Religiosität bilden. In der historische Formen eine gewisse Rolle spielen, aufgegriffen werden, aber im Insgesamt von Unberechenbarkeit und Irrationalität - als Substrat für dieses Mysterium Leben - beherrscht wird. Zurückgeworfen auf eine Stufe der Mythen, die hoffentlich rasch das Chaos wieder etwas zu ordnen beginnen. Ob es sich in Vernunft aber wieder lichtet, kann bezweifelt werden, denn weil Denken sich aus den realen Strukturen des Fleischlichen nährt, sich dort gegründet findet, wird der gnostische Technizismus in der Magie fröhliche Urstände feiern.

Denn hinter der Digitalisierung dieser Welt kann man durchaus eine bemerkenswerte Bewegung sehen: die Auflösung der materiellen Kulturspeicher, des Fleischlichen, das zur Last geworden (weil ideologisiert) abgeworfen, vernichtet wird, ja sogar ein nicht einmal nur unbewußter Wille zur Totalvernichtung von allem, was bisher geschaffen wurde. Wir werden eines gar nicht so fernen Tages ähnlich wie nach der Völkerwanderung ... bei einer geistigen Null stehen.

Wenn aber der Menschensohn wiederkommt, wird er dann noch Glauben finden?



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