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Mittwoch, 26. September 2012

Mythos Selbstevidenz

Wären die Fälle nicht so typisch, der Verfasser dieser Zeilen würde sie unter Grotesken des Alltags einordnen, und ablegen. Aber da war dieser Fall vor zehn, zwölf Jahren. Eine Dame mit gewissen sozialen Ambitionen war an den Autor herangetreten: sie hätte einen jungen Mann, gutaussehend, der sich sehr für computer interessiere. Da sie wisse, aus meiner Homepage sehe, daß ich in dem Feld bewandert sei, mehr als alle die sie sonst kenne, bäte sie mich, mit ihm zu sprechen. Denn er wisse nicht, welchen Beruf er ergreifen solle.

Also ließ ich ihn kommen. Sein "gutaussehend" entpuppte sich rasch als "schwerstens narzißtisch gestört", denn der junge Mann war gar nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, das man als solches zu verstehen hätte: stattdessen starrte er ständig in den Spiegel, der sich im Zimmer befand, und nicht einen Moment hatte ich den Eindruck, daß er überhaupt in der Lage war, mir zuzuhören. Na, was er sich denn so vorstelle, begann ich trotzdem. Computer. Was: Computer? Na Computer. Er interessiere sich so für Computer, ob ich ihm da was sagen könne. Es tauge ihm so - am Computer zu arbeiten. Da erblickte er meinen, und stürzte sofort darauf los, wollte ihn einschalten. Ob das ein Soundso sei, ob der diese oder jene Karte habe, diese oder jene ... Ich starrte ihn an. Das weiß ich nicht, das hat mich auch nie interessiert, wozu auch? Während er nun am Gerät herumnestelte, setzte ich fort: Ja, Computer, gut, aber was stelle er sich als TÄTIGKEIT vor?
Wäre er in der Lage gewesen, zu starren, hätte ER es nun getan. Was? Was tätigkeit? Na: Ein Computer sei ein Werkzeug, das man für einen Zweck einsetze. Also muß man bei diesem Zweck anfangen, bei dieser Tätigkeit! Er schwieg. Sie kennen sich ja gar nicht aus, bei Computern, meinte er. Und ... ging. Und in seinen Gesten lag so viel Verachtung, wie ein Angehöriger des Hochadels - Computer! - nur niedrigen Dienstboten gegenüber haben kann.

Der zweite Fall ereignete sich erst vor wenigen Wochen. Eine Nachbarin kam auf mich zu. Ihr Sohn habe nun eine zweijährige Computerfachschule absolviert, EU-gefördert! Nun suche er "einen Job", ob ich ihm da helfen könne? Und ich hatte noch nicht einmal geantwortet, verschwand sie wieder in ihrer Wohnung, um mit einem Packen ausgedruckter Bewerbungsunterlagen zurückzukommen, den sie mir entegegenreckte. Ich nahm ein Exemplar, und überflog den Text. Seine Liste der Befähigungen enthielt alle möglichen Programmnamen, die meisten mir gut bekannt. Am Schluß stand unter "besondere Fähigkeiten" der beeindruckende Satz: "Ausgezeichnete Kommunikationskenntnisse". 

Ich schluckte. Mit erwartungsvollem Blick meinte sie: das wäre doch hoch qualifiziert? In Österreich würde man damit doch einen "guten Job" kriegen? Computer!? Verlegen wehrte ich ab, ich könne nicht helfen, vielleicht sollte man das Wort "Kommunikationskenntnisse" ändern, so sage man nicht, nicht wirklich. Enttäuscht zog sie von hinnen.

Was ich ihr ersparen wollte war die nüchterne Feststellung, daß man mit diesen "Kenntnissen" so gut wie gar keinen Beruf ergreifen könne. Denn auch wenn es an allen Ecken und Enden zu hören ist - die Bedienung eines Computers ist bestenfalls ein "Skill", eine Tätigkeit, die man AUCH vorweisen kann. Und wenn nicht, ist das Bedienen von Programmen leicht, sehr leicht sogar, erlernbar. Genausowenig heißt das Bedienen von iPods, die Einrichtung einer Facebook-Seite, daß man "gut kommunizieren" könne. Denn das ist allemal noch eine Frage des "was, worüber?" - also von Inhalten, von Identitäten und Identifikationen, von konkreten Aufgaben. Mir fiele nicht ein Beruf ein - außer das direkte Erstellen von Programmen für Telekommunikationsunternehmen o.ä. - in dem "ausgezeichnete Kommunikationskenntnisse" OHNE konkrete Aufgabe im Unternehmen einen Sinn machen könnte.

Aber der Mythos "Computer" - und das zeigte sich mir - lebt ungebrochen. Dabei ist er buchstäblich leer! Er ist mit dem Verhältnis zur Magie vergleichbar. Joseph Weizenbaum, einer der Pioniere der "artificial intelligence" schreibt sogar, daß nicht einmal mehr die Programmiere selbst wüßten, WAS sie da überhaupt täten. Niemand, wirklich niemand durchschaut mehr komplexe Programme, sondern alle bedienen sie. Und die, die solche Programmepigonen erstellen, sind in der Regel alles andere als "intelligente" Menschen - sie sind (schreibt Weizenbaum) auffallend oft krankhafte, fanatische Charaktere, die in der im Grunde simplen Logik des Programmierens regelrecht untergingen.  Kein Programm ist aber selbstevident! Das heißt, daß mit der Komplexität des Programmierens auch das Unverständnis der Programme steige: man wisse buchstäblich nicht mehr, WAS die Programme überhaupt bewerkstelligten.

Aber der Mythos lebt nach wie vor. Und mit dem größten Kopfschütteln muß man kommentieren, wenn man hört, daß schon in Volksschulen Computer angewendet werden sollten und werden - auch hier steht die EU dahinter.

Zugleich werden Meldungen laut, daß die Lesefähigkeit der Schüler so dramatisch einbreche. Vor allem die Sinnerfassung sei beklagenswert gesunken. Dabei - so war allen Ernstes zu hören - würde durch die Computer so viel wie noch nie gelesen!

In allen diesen Aussagen verbirgt sich etwas, das, folgt man Walter Ong, zumindest unter starker Mitwirkung des Buchdrucks erfolgte: der Glaube an die Selbstevidenz von Sprache und Mittel, so wie sie aus der Objektivierung der Welt im Zuge des Aufkommens Galileischer Geisteshaltung entstand - Ong sieht eins ins andere greifen. Denn die eigentliche Leistung bei der Bedienung eines Werkzeugs, wie dem Computer, die eigentliche Leistung beim Lesen, ist nicht die technisch korrekte Bedienung oder Umsetzung von Zeichen und Hebeln. Es ist die schöpferische INHALTLICHE Leistung! In dem Maß, in dem jemand meint, das Werkzeug erledige eine Aufgabe selbständig, man müsse es nur noch bedienen, verliert es genau das, was es überhaupt leisten könnte: Hilfestellung bei der Lösung einer Aufgabe, die aber immer noch der Mensch selbst zu leisten hat!

Dieser Glaube aber bewirkt, daß das eigentliche Wesen der Welt in die Dinge hineinverlegt wird. Sie zu besitzen, sie bedienen zu können - natürlich in einem tief reduzierten, technizistischen, utilitaristischen Sinn - genüge. Der Mensch selber aber müsse sich nicht damit befassen, könne es auch gedanklich-geistig auslagern. Man müsse nur Mechanismen bedienen können. DAS seien die Fähigkeiten. Wobei hier gar nicht darauf eingegangen werden soll, wie sehr das Bedienen von Mechnismen selber die Strukturen des Bedieners verändert und prägt.

Wer telephoniert will jemandem ETWAS sagen, oder nur den Kontakt auffrischen, will ein Problem erledigt wissen, will mahnen oder ermuntern. Wer einen Computer bedient will eine Rechnung erstellen, eine Hochzeitseinladung gestalten, oder fünf Welpen verkaufen. Wer sich nicht für Welpen interessiert, wird keinen Käufer dafür finden! (Er wird aber eine Börse für Welpenpreise betreiben können, das wohl, und das haben wir ja gemerkt: praktisch sämtliche Trader der großen Maklerhäuser stammen mittlerweile aus der Physik. Denn Physiker, vor allem Quantenphysiker, können mit den komplexen Kybernetik- und Statistiksystemen am besten umgehen, über die Börsegeschäfte heute laufen. Auch hier also: Ablauf für sich ...)

Lesen ist eine geistige Leistung, eine Leistung des Herzens, der Haltung, der Phantasie, des realen Welterfassens. Es braucht Erinnerung, Weltverstehen, Erfahrung, Liebe, ja überhaupt Gefühle. Vielleicht bringt eine Intensivierung des Lesetrainings (oder des Angebots von Computerkursen und -schulen) eine Steigerung der Automatismen, in denen man die Zeichen und Hebel bedient. Aber weder macht es das Lesen zum LESEN, noch verbessert die Bedienung von Computern oder Kommunikationshilfsmitteln wie iPhones die Problemlösungskraft. Der Glaube an diese Mythen, der Umbau unserer Psyche zu einem Werkzeugsbedienungsmechanismus aber verhindert ganz gewiß, daß uns die Aufgabe bewußt bleibt, daß es nicht die Mittel sind, sondern wir, als im Leben Stehende, die die Welt zu bewältigen haben, in der Hingabe an eine wirkliche, inhaltliche, nicht einfach strukturelle Aufgabe, aus dem Eros der Dinge, der Welt. Immer noch. Was für ein Wunder.



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