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Samstag, 8. September 2012

Sprechinhalte III

Noch etwas fiel Luria bei seinen Forschungen auf: Mündliche Kulturen verweigern die sprachliche Definition von Begriffen! Auf die Frage, was denn ein Baum sei, war die regelmäßige Antwort der Usbeken und Kasachen: "Warum sollte ich? Jeder weiß, was ein Baum ist, das muß ich niemandem erklären."

Eine weitere typische Antwort auf die Frage, einen Baum mit zwei (!) Worten zu erklären: "Apfelbaum, Ulme, Pappel."

Andere wurden gefragt, was ein Auto sei, das wüßte aber nicht jeder. Die Antwort war etwa so: Eine Kabine mit vier Beinen, Stühle darin, ein Dach, und eine Maschine. Aber wenn jemand wirklich wissen will, was ein Auto ist, dann soll er doch gefälligst hingehen und es erfahren, nur so weiß man, WAS ein Auto ist.

Im Vergleich dazu schildert Luria die Erklärung eines Arbeiters in einem landwirtschaftlichen Kollektiv mit Schulbildung: "Es wird in einer Fabrik hergestellt. Auf einmal kann ein Auto eine Distanz zurücklegen, mit der man mit einem Pferd zehn Tage benötigt - so schnell bewegt es sich. Es benötigt Feuer und Dampf. Erst machen wir Feuer, das dann das Wasser erhitzt und zu Dampf werden läßt, und der Dampf gibt ihm dann die Kraft. Ich weiß allerdings nicht, ob ein Auto Wasser hat, aber das muß wohl so sein. Wobei Wasser ja nicht genügt, es muß also auch noch Feuer da sein." Er beschrieb also nicht den sinnlichen Eindruck, sondern seine Funktionsweise.

Ähnliche Unterschiede gab es bei der Frage nach der Persönlichkeit, dem Charakter der Menschen, sie sollten sich also beschreiben, wie sie wären. Eine der typischen Antworten:

"Ich aus Uch-Kurgan. Ich war früher sehr arm. Jetzt habe ich eine Frau und Kinder."

Ob er mit seinem Leben zufrieden sei, wurde er gefragt. "Es wäre nicht schlecht," meinte er darauf, "wenn ich ein wenig mehr Land hätte, damit ich auch etwas Weizen anbauen könnte."

Und was seien seine Schwächen? "Dieses Jahr habe ich einige Pud (Flächenmaß, Anm.) Weizen angebaut. Da sind einige Ausfälle, die versuchen wir gerade so gering wir möglich zu halten."

Ob er und die seinen gute Menschen wären?

"Ich glaube schon, wir benehmen uns gut. Würden wir das nicht tun, würden wir nicht respektiert werden."

Ein anderer wurde gefragt, ob er ein gutes Herz habe? Seine Antwort war: "Das weiß ich nicht, was soll ich über mein Herz sagen? Da mußt Du die anderen fragen, die können Dir sagen, ob ich ein gutes Herz habe. Ich kann darüber nichts sagen."


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