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Donnerstag, 4. Oktober 2012

Barmherzigkeit, nicht Rache

Eine bemerkenswerte Studie des jungen Menschen an der Schwelle zur Welt der Erwachsenen liefert der Film "Margaret". In ihm wird eine spätjugendliche Schülerin Zeugin eines Verkehrsunfalls, bei dem ein Busfahrer, der mit ihr Augenkontakt hält, eine rote Ampel übersieht und eine Fußgängerin tötet. 

Das Mädchen deckt den Busfahrer in den Untersuchungen des Unfallhergangs, und dieser wird auch von aller Schuld freigesprochen.

Da wird im Literaturunterricht, den sie besucht, Shakespeare besprochen, wo er sagt, daß das Lebensglück der Menschen keinen Gott kümmert, sondern reiner Zufall ist, liegt in der Empörung gegen diesen Satz bereits das Grollen des kommenden Gewitters. Denn ... Shakespeare hat recht. Aber sie ist damit nicht zufrieden und findet Ihre Figur in Richard III., in Margaret. Und fortan schreitet sie wie jene als Rachegöttin durch das Drama, fordert Gerechtigkeit, und Sühne.

Und sie widerruft zum Befremden aller tatsächlich ihre Aussage: der Busfahrer HAT Schuld, also soll er auch darunter leiden. (Ihre Mitschuld, durch Ablenkung, meint sie mit dem Eingeständnis bereits bewältigt zu haben, aber das nur nebenbei.)

Sie drängt auf die höchsten Maßstäbe in dieser Sache, und macht das Shakespeare'sche Anliegen zum Bild vom Erwachsenwerden überhaupt. Das die Jugendliche endlich erproben will. Nach einerseits ihren eigenen "ewigen" Kriterien, anderseits vermischt mit vorhandenen, tätigen, "erwachsenen" Mechanismen, mit denen die Welt die jungen Menschen in sich hineinzieht. Von denen sie deshalb auch meint (weil sie allgemein akzeptiert scheinen), daß sie dazugehören - so die Geringbewertung des "Sex" als bloße solipsistische Körperübung (die prompt in einer Abtreibung endet; berührend die Szene, in der sie ihre Unschuld verliert, wo sich jede persönliche Begegnung auflöst in Anweisungen ihres Partners, wie sie sich zu verhalten, was sie zu erwarten hätte, etc.)

Doch muß sie in ihrer letztlich kalten Ernsthaftigkeit feststellen, daß die Welt viel komplexer ist. Und keineswegs einfach Maßstäbe solcher von ihr gefühlter moralischer Gerechtigkeit anzulegen erlaubt. Und während sie umso vehementer das Leben auf Prinzipien reduziert, trampelt sie durch alle persönlichen Beziehungen (auch die zu ihrem in einer neuen Beziehung lebenden leiblichen Vater) und belastet sie, bis zur Zerstörung.

Zwar "siegt" sie tatsächlich im Rechtsstreit. Aber schon das im Recht angelegte Umbrechen von Sühne auf - von der Versicherung gedeckte - Schadensansprüche an die Busgesellschaft zeigt, daß es ihr gar nicht um "Gerechtigkeit" ging.

Nirgendwo mehr findet sich persönliche Betroffenheit, Menschen treten nur noch als abstrahierte Abwickler von Ablauflogizismen auf. Die Bezahlung von Schadensersatzgeld an die reine Telephonstimme bleibende Cousine, der "Erfolg", ist gleichfalls nicht ethische Reaktion des Unternehmens, sondern schlicht Kalkül, weil angedrohte (und nachweislich mögliche) negative Publicity angesichts ausstehender Arbeitskämpfe vermieden werden soll, dem Unternehmen somit durch Meinungsdruck in den Verhandlungen noch höhere Kosten drohen.
Die Strukturen der heutigen Welt sind auf technische Abläufe und Prinzipien der Rechtsabwicklung sowie politischer Überlegungen umgebrochen, in denen Ethik als persönliche Ethik nicht mehr vorkommt, wo jeder vermeint a-ethisch handelt, weil er sich hinter den Erfordernissen dieser Abläufe versteckt. In fragmentierte Welten wird aber Ethos zur bloßen Ablauflogik.

Die von dem Mädchen intendierte Bestrafung des Busfahrers, der nicht nur keine Reue zeigt, sondern die Tote als bestenfalls unangenehme Folge eines im Rahmen seines Jobs (den er ausübt, um Geld zu verdienen, seine Frau und sein Kind zu erhalten) zu kalkulierenden, üblichen Risikos sieht, bleibt nämlich aus. Und deshalb reicht ihr dieser Sieg nicht.

Bestrafung kann - wie bei Margarete in Richard III. - nur darin bestehen, das Leiden des "Schuldigen" zu wissen. Und wie Margaret unternimmt sie alles, um auch das Unrecht "zu fühlen", indem sie den Busfahrer aufsucht, und als Motiv uns ständig vor Augen führt, wie wenig der Schuldige unter seiner Schuld leidet. Denn DAS will und verlangt sie: sein Leid. Und das will und verlangt sie von ihrer Umwelt: sie soll gleichfalls am abstrakten Unrecht leiden, beitragen den Jüngsten Tag zu bereiten, in endgültiger Abrechnung und Gerechtigkeit.

Aber selbst das ganze Unterfangen - Rache für den Tod der fremden  Frau - zeigt dieselbe Beziehungslosigkeit: denn das Mädchen hat zur Toten gleichfalls keine Beziehung, sieht man von der indirekten "Schuld" durch Ablenkung des Busfahrers ab, dem sie immerhin schöne Augen gemacht hat. Das einzige, was sie also mit dem Unfallopfer verbindet ist ... die abstrakte Forderung nach Gerechtigkeit, wie sie sie sich vorstellt.




 Trailer "Margaret"

Tragisch dabei der - leicht zu übersehende - Aspekt, daß die Tote selbst keine nahen Angehörigen mehr hat, und es im Grunde auch niemanden gibt, der durch ihren Tod rein technisch gesehen "geschädigt" wurde. Ihre einzige Verwandte, eine Cousine, interessiert sich erst für den Fall, als sie von der Möglichkeit hört, 350.000 Dollar an Schadenersatz zugesprochen zu erhalten. Und hält es nicht einmal der Mühe wert, vor Ort zu erscheinen.

Nur als scheinbare Nebenhandlung (mit einem wie immer wunderbaren Jean Reno) wird die Beziehung ihrer Mutter (einer Schauspielerin und Autorin) zu einem griechischen Witwer abgehandelt. Und diese Beziehung zerbricht im Grunde am gleichen, das auch die Tochter scheitern läßt: an höheren Prinzipien, die sich in der realen Welt nicht wiederfinden, der Ambivalenz des Lebens nicht gerecht werden. Denn auf einfach freie Art spricht der feinsinnige, gebildete Mann bei einem Abendessen von "typisch jüdischen" Merkmalen, wird damit aber empört von ihr als "rassistisch" zurückgewiesen, ja sie bricht die Beziehung zu ihm ab. Was ihn so betrifft, daß ihm sein Herz bricht. Er, der wirklich liebte, der selbst die beträchtlichen charakterlichen Unterschiede zwischen beiden umfangen konnte, stirbt an einem Infarkt.

Auch der von dem Mädchen verführte Lehrer (Matt Damon) - genauso: der versuchte Beweis, in der Welt der Erwachsenen durch Kaltschnäuzigkeit zu bestehen - leugnet ebenso kaltschnäuzig jede emotionale Beziehung zu ihr ab, ja die war nie vorhanden: ihre Erzählung von der Abtreibung durchbricht nicht sein (natürlich nach besagter Verführung wieder aufgenommenes) Rollenschema, sie bleibt auf sich geworfen, erfährt von niemandem persönliche Anteilnahme.

Denn nur eines bleibt, und das findet sich ganz zum Schluß. Es bleibt das einzige, was ihr Leben hält, ja überhaupt Leben ausmacht - Liebe und Barmherzigkeit, hier: zu ihrer Mutter, deren Trost sie sich unter Verzicht auf alle Rationalität anvertraut. Mit der sie sogar nun von beiden erfahrene Reue und Leid verbindet. 

Denn in dieser Welt, ja überhaupt in der Welt an sich, darauf könnte man die Botschaft des Films eindampfen, gibt es keine persönlichen Beziehungen, wo der Nahe zum Teil eines selbst wird, für den man Verantwortung übernimmt, den man liebt. Ja es gibt keine Moral, aus der heraus Leben gestaltet werden - sondern die Ethik ist reduziert auf Nützlichkeits- und Geschäftsverhältnisse. 

Aber das ist eben nichts Neues, es hat sich vielleicht nur noch verschlimmert. Darin hat sich "die Welt" aber vor und nach Shakespeare nicht geändert. Sie ist und war nie gerecht, sie ist und war nie "prinzipiell", strukturell gewissermaßen herzvoll. Und in dieser reifen Resignation liegt die Erwachsenheit. Denn dieses Wissen darf nicht verhindern, im persönlichen Umfeld und Handeln Mensch zu sein: nur dort, im gestalteten persönlichen und liebevoll-barmherzigen Verhältnis, dort liegt es nämlich, das Herz der Welt.

Und das zeigt dieser Film ganz bemerkenswert - weil er es in einer einfachen Geschichte, die keine scharfen Plots und Aktionen braucht, zeigt.



*041012*