Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 12. Oktober 2012

Nur Not bringt Reformen

Josef Nadler zeigt in seiner Literaturgeschichte - die sich bewußt ist, daß sie eine Deutung zugrunde liegen hat, und man kann über die Deutung streiten, nicht aber über das Deuten selbst, erst Deutung macht überhaupt Ereignis zur Geschichte - daß die deutsche Literatur immer wieder von jenen Gebieten am stärksten geprägt wurde, in denen die Kultur selbst um ihr Leben ringen mußte. 

Historisch aufweisbar, sind somit gerade die geographischen Randzonen der deutschen Völker - dort, wo die Menschen erst zu sich kommen, sich in der Welt als Gestalt festigen mußten - jene gewesen, aus denen jeweils die entscheidenden Anstöße kamen. Und das waren immer auch die Gebiete, die im politisch-historischen Geschehen dann im Brennpunkt standen, in denen sich die Spannungen, längst gefühlt und durchlitten von den Literaten, auch in historischen Umbrüchen entluden. 

Das erklärt das im Verhältnis zur Einwohnerzahl starke Gewicht schlesischer, deutsch-baltischer und ostpreußischer, elsässischer und ... tschechisch-deutscher und generell österreichischer Schriftsteller im Rahmen der deutschen Gesamtliteratur. Das erklärt das Hin- und Herwogen von literarischen Einflüssen und Entwicklungen zwischen oft recht klar abgrenzbaren geographischen Räumen. Und das erklärt das auch enorme Anwachsen höchster geistiger Kräfte in Zeiten eines Einbruchs, so wie es in Deutschland und vor allem Österreich zur Zeit nach dem 1. Weltkrieg der Fall war. Wo regelrecht eine neue Welt geschaffen und rekonstruiert werden mußte, weil die Gebäude abgerissen, im Schutt die Fundamente neu gesucht werden mußten. Eine geistige Atmosphäre, in der leider auch die Blender und Täuscher Hochkonjunktur haben und hatten.

Ein Volksteil oder ein Volk aber, das sicher und satt war, dessen Existenz und Selbstbehauptung nicht (mehr) gefährdet war, ließ auch bald in der Literatur die Dynamik vermissen, sich zu entwickeln. Denn sie verlor wesentliche Aspekte ihrer existentiellen Bedeutung. Was sehr viel über das Wesen der (schriftlichen) Literatur, aber über das Wesen von Sprache überhaupt aussagt.

Aber dieses Gesetz läßt sich nicht nur in der Literatur ablesen. Es herrscht für so gut wie alle Bereiche des Lebens, nicht zuletzt in der Politik. Auch hier kommen die massivsten, drängendsten Anstöße zu Änderungen von den Rändern, in jeder Weise, und in jeder Richtung. Es wäre deshalb verfehlt zu meinen, daß Veränderungen, nach denen heute alle schreien, von etablierten Eliten ausgehen könnten. Das wird nie der Fall sein - warum auch? In ihren Köpfen und Herzen hat sich nie jene Spannung aufgebaut, die existentiell nach Lösungen für Bruchstellen sucht, in denen sie gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen in ihnen durchlitten haben.

Es waren immer Außenseiter, die zu großen Reformen aufriefen, die Oppositionen, die Verstoßenen, die Leidenden, von denen Anstöße zu Änderungen kamen, und ... auch die Rezepte. Aus dem Mund etablierter Eliten klingt deshalb jeder Aufruf nach Reform wie eine groteske Lüge. Nur wer das, was gut und anstrebenswert, entbehrt, bildet es in sich zu einem Bild, zu einer Sehnsucht aus, und das ist das Bild eines besseren Ganzen. Der Versuch, alles "in die Mitte zu integrieren", wie er selbst bei Migrationsüberlegungen herrscht, ist deshalb eine Reaktion der Bequemlichkeit. Die nur versucht, durch Beteiligung möglichst aller an ihrem fetten, bequemen Leben, in dem sie es sich eingerichtet haben, möglichst NICHTS zu verändern. Nichts nimmt einer Reformkraft so rasch ihr Drängen, als sie ins Gesamte "wohlmeinend" zu integrieren, sie mit Geld zuzuschütten, um sie in Watte zu packen. Der Sozialstaat heutiger Prägung hat deshalb nur ein Ziel: die Macht im Sattel zu halten. Die sich bestens wie eine subkutane Dornwarze ins vitale Fleisch verspreizt hat, sodaß sie nur noch durch großflächige Resektion zu entfernen ist.

Deshalb zeigt sich ein wirklicher Niedergang einer Kultur, eines Staates, vor allem dann an, wenn die Eliten immer ausgefeiltere Beteiligungssysteme einrichten, in denen sie - scheinbar - möglichst viele Menschen "nach oben" ziehen, zu sich. Sodaß ihre Interessen scheinbar zu Interessen möglichst vieler Menschen werden. Solche Organismen verlieren jede Regenerationskraft für Krankheiten. Ihre "Reformen" enthalten nur Rezepte, die die bestehenden Mechanismen "optimieren". Die Krankheit eines Organismus schafft also tatsächlich ihre Gegenmittel selber. Aber sie tut es nur durch wirkliches Leid.

Nicht weniger grotesk, ja geradezu fatal ist es deshalb, Künstler, Literaten, Philosophen, wohlversorgt ihres Außenseitertums zu entheben, indem man sie "fördert" und mit Belobigungen versorgt. Das nimmt ihnen alle Kraft, macht sie zu Ohrenbläsern des Etablissements, zu fetten Hofnarren, als Salz schal und wertlos. Denn ihre reale, existentielle Situation bildet - so wie bei allen Menschen - jene Strukturen, die die Inhalte und Werke hervorbringt. Wer etwas zu verlieren hat, wird bewahren wollen, was er hat. Wer das nicht, wer erst alles zu gewinnen hat, nur der wird versuchen zu verändern. Der entscheidende Punkt in jedem Werdegang eines Künstlers war der, wo er festgestellt hat, daß er nichts mehr im Außen zu verlieren hat. Wenn er erkennt, daß er nur sich selbst hat. Dann ist er allen Etablierten wirklich voraus - weil er sich in seiner Weltentbehrung eine Welt neu schaffen muß. Seine Kraft endet - historisch nachvollziehbar - genau dann, wenn sein Drängen angenommen wird, wenn er "Erfolg" hat.

Reformen ohne existentiellen Kampf gibt es prinzipiell nicht. Außenseiter, die es nicht wirklich sind, denen im Bestehenden kein wirklicher Gegner erwächst, sind nur noch Teil des Establishments, und Außenseitertum wird zur manierierten Attitüde.



***