Dieses Blog durchsuchen

Montag, 15. Oktober 2012

Propaganda als Gesellschaftsverklebung

Natürlich hat es sich jahrhundertelang vorbereitet, aber die Zurücklegung der Kaiserkrone durch Franz II./I. von Österreich war mehr als ein symbolischer Akt, es war die definitive Auflösung der letztlich die gesamte Welt umgreifenden Idee der Legitimität der Herrschaft. Angestoßen von Napoleon, begann nun das 19. Jhd. zu ringen, eine neue Hierarchie zu finden, die die Gesellschaften ordnen könnte. Dazu wurden Quellen gesucht, von denen sich Autorität ableiten ließe - Geburt, Rasse, Nation, Selektion, Überleben der Stärksten. 

Aber indem das Politische aufgelöst wurde, sich nur noch positivistisch neu formieren konnte, was nie und nirgendwo wirklich gelang, brach mit dem fehlenden Kopf auch die Gesellschaft in sich zusammen. Alle dem normalen Lebensvollzug immanenten Gemeinsamkeiten zerfielen nach und  nach, und der Punkt wurde erreicht, wo "künstliche" Ideen diese Rolle übernehmen mußten, oder: meinten, zu sollen. Sodaß bald die Gewißheit auftauchte, daß die moderne Gesellschaft heutigen Zuschnitts nur über Propaganda - wenn überhaupt - funktionierte.

Mehr und mehr begann also die Propaganda zu ersetzen, was an gemeinschaftsbildendem, allen Menschen immanentem Geist entflohen war. Der Mensch fand sich vor allem durch die Arbeitsprozesse disintegriert und damit isoliert, gezwungen seine eigenen Fundamente zu setzen, und das, während er bereits steht. Der Massenmensch entstand: der nicht mehr sein soziales Kleingefüge um sich hat, das ihn selbstverständlich integriert und definiert, in dem alle Begegnungen sein kleines menschliches Maß haben, jene Ambivalenzen austarieren, die eben menschliche Beziehungen haben. Fortan mußte er sich entscheiden, fortan stand er als Einzelner nur noch dem amorphen ganzen gegenüber. Nun mußte er bewußt entscheiden, was nie zu entscheiden war. Weshalb es vor allem die "Gebildeten" sind, jene Schichten, die ihre Entscheidungsgrundlagen aus Information aus dritter Hand bezieht, ja, beziehen muß, an die sich Propaganda wendet.

Nach wie vor gilt nämlich, daß nur der Mensch gegen jede Form von Propaganda immun ist, der fest eingebunden in kleinste soziale Gruppen ist, mit dem Grundstein, der Familie. Jeder, der existentielle und vor allem originäre Wirklichkeitserfahrung hat, ist in seiner eigenen Wahrnehmung geerdet, aus deren Prinzipien er auch begegnender Information bereits kritisch begegnet. Gehalten in einem sozialen Umfeld, das denselben Geist atmet. Deshalb zielt jede Propaganda auf die Auflösung dieser Einheiten ab. Nur dann ist "eine Gesellschaft" steuerbar. Und sie bildet neue Einheiten.

Zwei der Grundprinzipien der Propaganda sind nämlich die "agitative" und die "integrative" Propaganda, wie Jacques Ellul sie klassifiziert. Die erstere wendet sich an die Bevölkerung als Ganzes. Aber solche Propaganda vermag nur kurzfristig zu wirken, sie vermag aufzuputschen, sie vermag kurzfristig Stimmungen zu erzeugen, sie vermag aber nicht zu "halten".

Das ist die Aufgabe der integrativen Propaganda. Sie geht von neuen Gruppen aus, in denen sich die Menschen "zwangsläufig" zusammenfinden. Und dort ... sich gegenseitig überzeugen. Ausgehend von Schlüsselfiguren, die "eingebunden" sind, deren Tätigkeit also dem Gelingen der Idee mehrfach und wenn möglich existentiell verbunden bleibt. Das Verhältnis muß etwa 1 : 10 betragen: 1 Agitateur, 10 Zweitagitateure. Mao hat es in China "vorbildlich" vorexerziert, denn seine Propaganda ist zweifellos die erfolgreichste der Weltgeschichte. Wo jedes soziale Umfeld staatlich beeinflußten Charakter hat, einer der Erzieher des anderen wurde.

Daran muß man denken, wenn man die Ausführungen von Bill Lee liest*, einem anerkannten Werbefachmann aus den USA. Er verkündet das Ende der herkömmlichen Werbung (und greift damit natürlich viel zu weit), spricht ihr ihre Wirkung (=Erfolgswirksamkeit) ab. Vielmehr sei das Zeitalter der sozialen Netzwerke angebrochen: Wo Konsumenten Konsumenten überzeugen. Die "neue Werbung" wendet sich an soziale Netzwerke, analysiert diese, und sucht nach Personen, die Einfluß auf ihre Mitmenschen nehmen.  Und sie tut es, indem sie diese einladen sollte, Kampagne wie Unternehmensstrategie mitzubestimmen. Denn, so Lee, "in allen Unternehmen versuchen Leute, die in völlig anderen Lebenssphären leben wie ihre Kunden, deren Bedürfnisse zu erfassen." Auf die muß sich Werbung konzentrieren. Der Kunde der Zukunft bezieht seine Informationen von seinen Freunden und Bekannten, von Menschen, denen er vertraut. Also muß er in die Ziele des Unternehmens selbst integriert werden - ihrer beider Horizont verschmilzt, Diskussion wird zur Ablaufoptimierung.

Nachstellen der verlorenen immanenten Bezüge. Eine Gesellschaft, die auseinandergefallen ist, versucht methodisch, jene Bezüge zu rekonstruieren, die dem Menschen lebensnotwendig sind, aber fehlen. Denn das Ich wird am Du. Versucht technisch zu erreichen, was sich jeder Technik aber entzieht.

Bis die letzten sozialen Beziehungen vergiftet sind, bis jedes Lächeln des Mitmenschen dem Verdacht unterliegt, mich nur manipulieren zu sollen. In einer Sozietät, die in sich den Charakter der Propaganda hat. Ohne die längst "Gesellschaft" gar nicht mehr möglich wäre. Möglich? Vor deren wahrem Gesicht man sich fürchtet.




*Ausgezeichnet paßt dazu auch der Bericht über ein Treffen "führender Intellektueller" (!) im Burgtheater, das dieser Tage stattfand. Mit einem Fazit: es muß gelingen, die Protestbewegungen, die Unmutsträger, die "Wutbürger", in die gesellschaflichen Diskurse zu intergrieren. Das ist eine Überlebensfrage der Demokratie. Denn die Regierungen verlieren längst überall ihre Glaubwürdigkeit.



***