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Dienstag, 5. Februar 2013

Religionsverfall

"Es ist nicht richtig zu sagen, daß der Mensch immer schlecht sei. Aber es ist vernünftig, das anzunehmen," schreibt Franz Molnar einmal. Und nur deshalb ist es auch möglich, Parallelen in den Entwicklungen verschiedenster Zivilisationen zu erfassen. Die allerdings als zwangsläufig Zyklen zu sehen eine Verirrung ist. Es ist aber eben so, daß das Schlechte am Menschen auch das Verlässlichste an ihm ist. Und kein noch so enges Gesetzes- und Verbots- und Strafwerk wird das ändern - auch das hat ja jede Zivilisation an ihrem Ende versucht. Eben dann, wenn das Normale des Alltags nicht mehr dem Natürlichen entspricht, immer weiter davon abgeht. Das führt zu einem Zeitgeist, dem es in der respondierenden Form des Selbst der Menschen mehr und mehr an Wirklichkeit mangelt. Das heißt, daß das (überall gleich sich zum Weltimmanentismus entwickelnde, also rationalistische) Denken einer Zivilisation in ihren letzten Stadien immer irrelevanter wird, die Wirklichkeit, die ja jedes Individuum unablässig erfährt und erlebt, der es trotz allem Intellektualismus ausgeliefert ist, nicht mehr erfaßt. Denken, das in der Welt bleibt, kann sich nicht aus sich selbst begründen. Das, was das Leben letztendlich umfaßt, braucht die Transzendenz.

Kulturell-zivilisatorischer Fortschritt führt also, schreibt Louis Bouyer in "Ritus und Mensch", nicht zwangsläufig, aber beobachtbar immer, zum Verlust des Kontakts mit den lebendigen Quellen der religiösen Erfahrung. Darin ist die griechisch-römische Zivilisation ein äußerst lehrreiches Beispiel, in dem sich auch die heutige Entwicklung des Abendlandes vorgezeichnet findet. So vorgezeichnet, daß es nicht wenige Stimmen gab und gibt, die darin eine unausweichliche, undurchbrechbare Schicksalshaftigkeit erblicken wollen.

Schicksalshaft aber war auch nicht der Einbruch der orientalischen Mysterienreligionien in die Europäische Antike. Und doch verläuft die Gegenwart verblüffend parallel. Fehlen die spontanen Urerfahrungen des Lebens und des Todes, in denen der Mensch den religiösen Sinn seiner gesamten Existenz erfaßt, verkümmert seine innere Reaktions- und Handlungsfähigkeit. Zwar löst sich die Religion nicht sofort auf, aber die Heilsfrage wandelt sich zu einem intellektuellen Problem. Es geht jetzt nicht  mehr darum, sich einer transzendenten Macht anzuschließen, die sich inmitten der menschlichen Erfahrung offenbart, und so das Ziel des Lebens zu erreichen. 

Man strebt vielmehr danach, die bloße Erklärung der Welt an die Stelle des religiösen Heils zu setzen. Das Gottesproblem ist nicht mehr eine Frage der Begegnung, die sich im Leben vollzieht, sondern es ist die intellektuelle Lösung eines metaphysischen Rätsels. Der sich selbst erkennende Mensch erkennt zwar seinen Ursprung in Gott, doch weiß er nicht, wie er die Gegenwart Gottes wiederfinden soll.

Man versteht die alte Religion nicht mehr, weil sie sich dem zweideutigen Fortschritt der intellektuellen Fähigkeiten nicht anschlossen hat. Zwar liefert genau diese Unverständlichkeit der alten Religion oft wieder merkwürdige Anziehungskraft, aber sie löst sich in synkretistischer Gnosis auf. Die beliebig aufgreift, was immer "mysteriös" daherkommt. Der Mysterien übergestülpt werden, Riten, nein, Scheinriten, denen selbst aber gar keine erlösende Kraft mehr innewohnt, die oft nur noch Zierrat oder Teilreparatur sind. Unwirklich, unwirksam, unwesentlich, an sich ersetzbar.

In Wirklichkeit steht in einem solchen Stadium also keine neue Religion auf, sondern Religionsphilosophien, deren Riten beliebig werden. Weil sie nur noch zu Symbolen verkommen, die keinen eigenen Nutzen mehr haben, sofern man ihren geheimen Sinn nicht begreift. All diese Sekten und okkulten Strömungen haben aber mit Religion nichts mehr gemein. Und sie hinterlassen auf lange Frist Enttäuschung und Frustration, über die auch archäologischer Rückgriff - eine damit zusammenhängende Phase - nicht hinwegtäuschen kann, weil er nichts als Schwärmerei ist.

In dieser Phase der Antike fand das Christentum einen "aufbereiteten" Boden vor. Denn seine Riten waren und sind real und realistische Begegnungen mit der Transzendenz, keine Abstraktionen.

Die anderen Mysterien, schreibt Bouyer, hatten tatsächlich nichts Geheimnisvolles außer ihren Riten. Der Sinn, den man ihnen gegen konnte, war in keiner Weise mysteriös, da jeder nach seinem Blieben darüber diskutieren durfte. Überdies war er den Riten nur äußerlich angeheftet und wurde niemals ihr wirkliche Eigentum. Als dann aber die Mysterienterminologie auf diesen Sinn selbst angewandt wurde, hatte man bereits den Rahmen der Mysterienreligionen verlassen und sich einem gnostischen Okkultismus verschrieben, der von ihnen kaum etwas anderes entlieh als ihre Sprache und ihre Bilder.

Dagegen ist der christliche Mysterium in seiner ursprünglichen Bedeutung kein heimlich vollzogener Ritus, auch keine Idee, die sich nur einer Elite enthüllt, sondern der jeder Kreatur unzugängliche Heilsplan Gottes. Gott selbst hat ihn vor der Welt und ihren Mächten, wer immer die sein mögen, geoffenbart, und zwar in einem historischen Faktum, einem Faktum, in dem die menschliche Geschichte ihren Höhepunkt erreicht. Es ist das einzigartige Faktum Jesu von Nazareth, in dem Gott die gesamte Menschheitsgeschichte wieder auf sich nimmt, während er ganz in ihr untergeht. [...] In ihm enthüllt sich der ewige Wille Gottes, der in höchster Machtvollkommenheit beschlossen hat, die Zeit zu erfüllen und seinen Sohn in die Welt zu senden; dieser bringt der Menschheit Gottes letztes Wort, er verwirklicht es ganz in seiner eigenen Person.

Das christliche Ritual hat also die Riten, die es teils sogar in unveränderter Form übernahm, nicht "herangezogen", sondern mit einem neuen Sinn erfüllt. Einem Sinn, den sie zuvor nie real erreicht, wenn auch oft genug erahnt haben, der sich nun aber - real - erfüllt. Die zuvor rein menschliche, irdische Weisheit, bezeichnendstes Merkmal einer Kultur, in der sich ihre Lebenserfahrungen in Tradition gründen und durch kritische Überlegung ausgewählt werden, hatte sich der Weisheit Gottes geöffnet.






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