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Sonntag, 17. März 2013

Nicht Mensch sein müssen

Wir spüren es als Strenge, aus Aufruf, wenn uns jemand beim Namen ruft. Selbst in der Rhetorik ist dies ein Mittel, den anderen zur Zurückhaltung aufzurufen, ja ein Mittel, ihn zu verunsichern, weil er in seinem vollen Namen dem Absoluten gegenübersteht. Und dem gegenüber kann niemand bestehen. 

Auch das gilt es zu ertragen. Denn kein Mensch kann absolut bestehen, jeder muß seine Ambivalenzen mittragen lernen. Dann kann er auch die des anderen ertragen.

Wenn also heute so weithin zu beobachten ist, daß die Menschen einander mit Kosenamen anrufen, mit Verkürzungen ihres vollen Namens, mit verwaschenen Anreden titulieren - allem voran das "Hallo!" - so steckt dahinter die Flucht vor dem Sein selbst. Steckt dahinter die Angst vor dem Gemessenwerden an der Wahrheit, als die mir der andere entgegentritt. Steckt dahinter die Angst, sich in der Anrede selbst zu definieren. "Hallo!" statt "Lieber Herr XY, lieber Z!"

Besonders in der Erziehung, im Umgang mit den Nachkommen, zeigt es sich mit besonderer Schärfe. Denn hier gibt die Erziehung ihren Anspruch und ihre Verantwortung auf, den anderen in die Welt des Ernstes einzuführen. Ihm diese Welt als seine Zielwelt vorzustellen und vorzuhalten, in die er sich allmählich einflechten, der er allmählich genügen muß.*

Im allgemeinen Umgang drückt die allmählich allgemeine Sitte, den anderen mit Verballhornungen oder Koseformen seines Namens anzureden, den allgemeinen Verzicht auf Ding und Welt aus, ist als Form der Reduktion des Menschen auf technizistische Funktionalität zu werten. Im kollektiven Verzicht, noch Mensch sein zu müssen, bei gleichzeitigem Anspruch, die Nutznießungen des Menschseins - in der strengen Form eines Moralismus, mit dem heute allgemeiner Verzicht auf Dinghaftigkeit gefordert wird - zu ernten.

Erst auf dieser Grundlage, von diesem Ausgangspunkt her, wird hingegen ein Kosename im Rhythmus von Spannung und Entspannung - Familie, Zweisamkeit ist ja auch als Hort der geschützten Chaotik der Regeneration zu sehen, ja ist ihre Grundeigenschaft: als gemeinsames (Familienname!) Hinausstrecken in die Welt, als Form, die der Welt immer "gegen" steht, erst so aber integriert - auch legitim. Muß aber darin intim und schützenswertes, nach außen vorsichtig zu handhabendes Gut bleiben.** Gemeinschaft, Gemeinsamkeit ergibt sich erst aus der Teilnahme von Redendem, Nennendem und Genanntem an derselben Sache. IN IHR haben Hörender wie Redender Anteil an einem gemeinsamen Gut.

Die Allgemeinheit bzw. Beiderseitigkeit des entspannten Niedersinkens in ein chaotisch Ungeformtes hingegen bedingt nicht Gemeinschaft, sondern Versinken in einem undifferenzierten Allgemeinen. In der (auch dies: heute allgemeinen) Sicht, daß dieser Formverzicht eine besonders intensive Liebe stecke, steckt nicht mehr als blanke Lüge. Und verbirgt sich in Wahrheit die Unfähigkeit zu lieben, weil nur "etwas" geliebt werden kann. Das "Wohlgefühl" des Versinkens im Allgemeinen ist keine Liebe, sondern der Verzehr der letzten Reste von Geliebtheit.***

Der heutige Verzicht auf Formalität der Anrede ist also keineswegs bloßer "Respektverlust". Als solcher wirkt er sich lediglich aus. Er ist die aggressive Form der Nichtung der Menschen, der hier auf Bösartigkeit, dort aber auf Schwäche zur Welt überhaupt beruht. Trainiert darin, auch "ohne Welt" leben zu können, das heißt: ohne Wirklichkeit, fehlt vielen bereits die Kraft, im Verwenden von Namen dem Begegnenden gegenüber diese Welt existent zu halten. Fehlt vielen damit die Kraft zur Liebe, die ein Hineinschwingen in die Welt, ein schöpferisches Zur-Welt-machen bedeutet. Denn das erfordert ein Bestreben aller beteiligter Seiten - es gibt die menschliche Welt nur als (mit irgendjemandem bzw. allen) gemeinsame Welt.****


*Die Auswirkungen auf die Persönlichkeit von Kindern, denen überhaupt nur Kosenamen oder Verballhornungen als Namen "gegeben" werden, können hier nur angedeutet werden - sie besiegeln einen Generalverzicht auf Persönlichkeit und stoßen den Menschen in das Chaotische, aus dem er kommt, aus dem sich zu befreien, durch Konkretion, aber der Weg zum Menschsein selbst ist.

**Es ist also das Nennen von Namen, das überhaupt erst eine Welt schafft! Es ist der Name, auch der Amtsname, der die Persönlichkeit macht. Auch dies noch einmal angeführt, um die reale Bedeutung des Genderns der Sprache vor Augen zu stellen - das in seiner verwirrenden Kraft bei weitem unterschätzt wird. Wie jede totalitäre Sprache, legt es die Hand an die Wurzel der Welt.

***Im übrigen ist dies ein wesentlicher Aspekt der social media. Die als pausenlose wechselseitige Versicherung gesehen werden müssen, daß auch der andere auf Welt verzichtet. In ihrer Intensität umso drängender und zeitlich dichter, als diese Aufforderung ZUR WELT mit jedem Moment an den Menschen herantritt, so lange er überhaupt lebt, aber unbeantwortet bleibt. Social Media können sehr präzise als Instrumente gesehen werden, mit dem sich die Menschen wechselseitig anbetteln, einander Welt zu schenken, ohne daß sie die Mühe kosten würde, sich zu ihr zu erheben. Die "suchtmachende Wirkung" der social media beruht auf dieser Schwäche zum Selbstsein in der Wirklichkeit, sie verspricht den Verzicht auf diese elementarste Mühe des Menschseins, lagert im wahrsten Sinn des Wortes Persönlichkeit in die Allgemeinheit aus, indem sie mit dem Versprechen spielt, durch funktionale Konstruktion dem Wesen des Personseins, in der Persönlichkeitsausfaltung, zu genügen. Facebook-Profile, auch die Aggressivität, mit der ein Eintritt in diese Welt gefordert wird, sprechen da eine überaus beredte Sprache.

****Wie bedeutend das Nennen eines Namens - als Ermächtigung - ist, zeigt sich an einem Gegenbeispiel: Dem des Zwischenschaltens einer Sekretärin in einem Telephonat. Die ständige Verfügbarkeit durch einen Telephonanrufer bedeutet eine Ungeschütztheit, einen Zwang, und damit einen Verlust der Gestaltungsmöglichkeit, indem sie formierte (sachliche) Stellungnahme verhindert, Zwischenmenschlichkeit auf bestimmte Funktionsaspekte reduziert. Schon in der Anrede nämlich ist ein Gespräch im Prinzip geführt. Unentwegt verfübar sein heißt, die spezifische Gestaltung einer Beziehung aufzugeben.

Ein weiteres illustratives Beispiel ist das Anredeprinzip beim Militär - der Befehlende nimmt den Namen des Angesprochenen nicht in seine Persönlichkeit auf, sondern überläßt ihm einem abstrakten Funktionsprinzip. "Korporal Müller!" "Korporal Müller meldet sich zur Stelle!" Er setzt ihn nicht in die menschliche Vollwirklichkeit, sondern nur in die funktional-militärische Teilwirklichkeit ein. In welch ersterer der Angesprochene einfach antworten würde: "Ja?"


*170313*