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Donnerstag, 25. April 2013

Raum und Zeit (1)

Aber auf noch eine Besonderheit der Empfindungen macht Pálagyi aufmerksam. Nehmen wir eine Hand, die über die (eigene) andere streicht. Der aktiven Empfindung in der tätigen Hand, nennen wir sie A, steht das Empfinden der passiven Hand, nennen wir sie B, gegenüber. Der Empfindungsreihe a steht damit Empfindungsreihe b gegenüber. 

Beide Empfinden aber sind unterschiedlich: a ist extensiv, b ist intensiv. Auf die Empfindungsreihe a führt sich der Begriff der Zeitdauer zurück, während auf der (passiven) Empfindungsreihe b die Ausdehnung begrifflich zurückgeführt wird.

Daraus ergibt sich, daß wir den Raumbegriff ohne Zeitbegriff nicht isoliert erfassen können, beide sind schon vegetativ untrennbar verbunden. Wir können die Ausdehnung von b nicht als zusammengehörig erfassen, wenn wir nicht gleichzeitig im Bewußtsein über die Zeit den Zusammenhang herstellen. Wir müssen das räumliche Nebeneinander in ein zeitliches Nacheinander auflösen, in den beiden Fällen - berührende wie berührte Hand - sogar in je unterschiedlicher Reihenfolge.

Weil aber die berührende Hand A sich bewegt, wir zugleich in uns diese Bewegung selbst fühlen, wir die Einheit ihrer Bewegung über die Zeit erfassen, führen wir im Bewußtsein Zeit und Bewegung zusammen. Diese Bewegungsgefühle fallen in uns mit dem Gefühl des Berührten, b, zusammen. Und auf sie beziehen wir den Lebensvorgang der Phantasma der eingebildeten Bewegung.

Auffassungen von Raum und Zeit sind also nur über den Bewegungsbegriff ausbildbar. Ja, sie sind in diesen Bewegungsphantasma verankert. Jede menschliche Phantasie ist nichts weiter als Bewegungsphantasie. Nichts weiter als die Fähigkeit, sich von dem einen Ort an den anderen zu versetzen, ohne die Wirklichkeit produzieren zu brauchen.

Sie, die Phantasma, regen in uns Imaginationen (Verbindungen mit Sehbildern) an, oder  umgekehrt, regen solche Bilder Imaginationen von bekannten Gefühlen und Empfindungen an.

Nehme man einen Geometer, der ein Dreieck, ein Viereck, einen Kreis etc. vorstellen will. Er erzeugt sie durch eingebildete Bewegung - die er selbst hervorbringt, als gewissermaßen Künstler dieser eingebildeten Bewegung. Und er kann dadurch zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Raumgebilde durchdringen.

Der Zeichner und Maler dasselbe: Er zeichnet in seinen Phantasmata vor, was er später zu Papier bringt. Und nichts anderes passiert in der Welt der Affekte, die an wirkliche oder eingebildete Bewegungen, in der Mimik, gebunden ist. Die ganze höhere Entwicklung unseres Gefühlslebens hängt davon ab, ob wir diese Mimik real ausführen, oder in die Einbildung verlegen können.

Und nichts anders passiert in der Sprache, die ja zuallererst eine physiologische Bewegung ist: in den Stimmbändern, den Muskelspannungen etc. Alle unsere geistige Tätigkeit ist von einem (unhörbaren, inneren) Sprechen begleitet und unterstützt. (Lesen ist überhaupt nur als "stilles Sprechen" zu betrachten.) Wenn ein Taubstummer nicht in die Lage kommt, real oder eingebildet mimische Bewegungen auszuführen, kann er kein Geistigkeit entwickeln.



Teil 2 morgen) Erkenntnis kommt aus Bewegung



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