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Dienstag, 14. Mai 2013

Unpsychologische Psychologie

Jeder Versuch, die Psychologie von der Philosophie zu trennen, muß zwangsläufig zu einer Verflachung der Psychologie führen, schreibt Otto Weininger an einer Stelle. Diese Emanzipation von der Philosophie ist der wahre Grund für den Verfall der Psychologie. Sie setzt aus diesem Grunde (und in völliger Begriffsverwirrung, wie M. Pálagyi nachweist) Sinnesempfindungen mit Psychologie in eins, welche aber damit gar nichts zu tun haben. Sie sind ausschließlich das Gebiet der Physiologie und Biologie. Jeder Versuch, physiologische Spezialprobleme in eine tiefere Beziehung zu dem übrigen Inhalt der Psychologie zu bringen, muß mißlingen.

Denn zwar setzt sich die äußere Welt, nicht aber die innere aus baren Empfindungen zusammen. Deshalb gelangt die Psychologie auch zu keinen brauchbaren Analysen wirklicher psychischer Probleme, wie Mord, Freundschaft, Einsamkeit, etc. Eine wirklich psychologische Psychologie müßte zuerst einmal die Empfindungslehre hinauswerfen, die von Hume ausgehend (psychophysischer Parallelismus) die moderne Psychologie fundiert, aber völlig in die Irre geführt hat.

Es ist dieser Begriffsverwirrung - Folge des Mangels an Philosophie, die die nahezu mythologische Annahme des psychophysischen Parallelismus zu jenem Treibsand gemacht hat, auf der die heutige Psychologie aufzubauen versucht, vergeblich - zu verdanken,  daß sich ein "Ich" als Träger des Charakterlichen ins Nichts eines Kettenschlusses aufgelöst hat.

Der Charakter aber (als Wesensgestalt des Ich) ist nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen Thronendes, sondern etwas, das sich in JEDEM Gedanken und JEDEM Gefühle desselben offenbart. "Alles was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn."

So, wie jede Zelle die Eigenschaften des ganzen Individuums in sich birgt, so enthält jede psychische Regung eines Menschen, nicht bloß einzelne wenige Charakterzüge, sein ganzes Wesen, von dem nur in einem Momente diese, im anderen jene Eigentümlichkeit sehr hervortritt.

So manche Streitfragen der Psychologie, ja gerade vielleicht ihre prinzipiellsten, vermag überhaupt aber nur eine charakterologische Betrachtungsweise zur Entscheidung zu binden. Indem sie zeigt, warum der eine diese, der andere jene Meinung verficht, darlegt, weshalb sie differieren, wenn sie über dasselbe Thema sprechen; wenn sie über denselben Vorgang oder psychischen Prozeß aus keinem anderen Grunde anderer Ansicht sind, als weil dieser bei jedem die individuelle Färbung, die Note seines Charakters zeigt. Erst auf dieser Grundlage könnte eine Allgemeinpsychologie aufbauen.

Anm.: Stattdessen wird die Existenz eines Charakters überhaupt geleugnet (oder beliebig umgedeutet, was nur möglich ist, indem die Begriffe im Nebulosen enden bzw. anheben). Aber das formale Ich wäre das letzte Problem einer dynamischen, das inhaltliche, material erfüllte Ich das letzte Problem der statischen Psychologie. So ist es begreiflich, warum die Psychologie zu keiner Charakterlehre mehr kommt. Nur darin ist das Sein des Ich haltbar, sein Erweis knüpft daran. 

Ohne "Ich" aber zerfließt jede Psychologie, und kann sich praktisch nur durch einen Kunstkniff halten, wie er sich praktisch auch zeigt: Durch Rückgriff auf rein "klinische" Symptombekämpfung, mit je Therapeuten wechselndem Hintergrund (Begriff des "Normalen"), oder/und durch Flucht in das weite Gebiet der Weltanschauungen, auffallend häufig heute: In das der Esoterik.

Wobei schon alleine ein Faktum der Realität nahezu alles erzählt: Während die Lehren der Psychologie (fast) zur Gänze von Männern ausgearbeitet wurden, sind die Mehrheit der anwendenden Psychologen zur Mehrheit, die Studenten als zukünftige Psychologen heute gar zu siebzig Prozent ... Frauen.

Mit der nächsten enthüllenden Besonderheit: Denn von einer "Psychologie" kann man gar nicht sprechen. Es gibt bestenfalls "PsychologiEN", Schulen (darunter freilich einige wenige, die sich dieser Problematik bewußt sind), an die sich Einzelne anschließen. Das alleine schon zeigt ihre Problematik als Wissenschaft, weil offenbar der sachliche Boden fehlt, auf dem sich einheitliche Substanz bilden könnte. Die Gründe liegen siehe oben auf der Hand. Oft aber noch schlimmer: Denn wenn man doch von gewisser Einheitlichkeit der Ansätze sprechen kann, so deshalb, weil sie in fast allen diesen Fällen auf einer dogmatisierten These aufruhen, die selber keine (philosophisch explizierte oder explizierbare) Theorie ist, sondern dieselbe diffuse Ansammlung von TheoriEN, namentlich dem Evolutionismus. Der geneigte Leser möge einmal die Probe aufs Exempel machen, und mit drei Psychologen über deren Gedanken zum Thema "Mensch" oder "Seele" sprechen, deren Anthropologie also. Er wird aus dem Staunen nicht herauskommen.


*140513*