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Mittwoch, 5. Juni 2013

Was Gott kostet (2)

 Teil 2) Der nachkriechende Gott





Die früher selbstverständliche Hilfe und Rücksicht beim Einsteigen von Müttern mit Kinderwägen, zum Beispiel, schwindet zum einen, und wird zum anderen als Angelegenheit der Öffentlichkeit angesehen, die daraufhin spezielle Einstieghilfen montieren muß, oder wo der Triebwagenfahrer per Klingel als "Recht" herbeigeholt wird. Wobei sich die Fahrgäste auch das Recht herausnehmen, die dadurch eintretende Verspätung zu reklamieren. Das ist einer der mittlerweile zahllosen Kostenfaktoren, wo früher "kostenlose" weil zwischenmenschliche Vorgänge plötzlich reale Kosten verursachen.

Und die Videoüberwachung trägt sehr viel zu dieser Erosion des Sozialen bei, soviel ist gewiß. Denn in jedem Fall verändert sich das gesamte Selbstempfinden und damit die Identität im Raum, und neues Unsicherheitsgefühl entsteht. Völlig zu Recht, und noch kaum mehr als diffus manifest. Denn die möglichen Folgen totaler Überwachung, die längst auch den privaten Raum durch private Anwendungen erfaßt hat, sind noch wenig mehr als ahnbar, kaum noch quanifizierbar (z. B. die Erpreßbarkeit der Menschen wird deutlich gesteigert, ob bewußt oder unbewußt, die Einflüsse auf das Verhalten sind einfach da), aber mit Sicherheit gewaltig.

Denn nur in einem geschützten privaten Bereich kann sich der Mensch selbst besinnen, ja nur aus dieser Privatheit heraus überhaupt ETHISCH (sittlich) handeln. Nur ohne Rollendruck - das ist er in seiner intimen Sphäre (wie der Zuschauer im Dunkel des Auditoriums) - kann er sich auf sein wirkliches Wahrnehmen besinnen und eigenverantwortlich werden und nachdenken, und dann erneut in die Welt der Figuren, ins Welttheater  hinaustreten.*

Dieser Aspekt wird völlig unter- weil falsch eingeschätzt. Dabei ist er der Hauptaspekt in den Überlegungen zu den Entwicklungen der Intern- und social-media-Technik. In denen es nicht um "Inhalte" geht, die man zu fürchten oder nicht zu fürchten hätte. Sondern um prinzipielles Wirken, das sich ganz konkret entfaltet. Zwangsläufig, nicht als "Möglichkeit".

Die wenigsten dieser Faktoren sind technisch oder mathematisch bzw. exakt quantifizierbar, sondern nur durch Grundsatzüberlegungen erkenn- und einordenbar. Je automatisierter sie (aus Kostengründen) ablaufen werden, und das werden sie, berühren sie direkt die Frage nach der Normalität. Und darüber wirken sie sehr real normbildend auf eine Gesellschaft, mit enormem Konformitätsdruck und (alsbald internalisierter) Selbstzensur.

Denn die Totalüberwachung bildet eine bemerkenswerte Analogie zu einer Grundgegebenheit des Menschen: Der sich IMMER einem Du gegenüber weiß, Gott, dem Sein. Das ist sein Grunderfahrung. Jeder Mensch, der denkt, spricht innerlich mit dem Sein, spricht mit einem Gegenüber, und erfährt sich als Aufgerufener - zum Gehorsam der Norm des Kosmos gegenüber. Das ist ja überhaupt Sein und Wahrheit.

Die Videoüberwachung auf allen Plätzen versucht damit direkt, das Verdunsten der Religion zu ersetzen. Nur damit kann sie ja ihre Notwendigkeit begründen. Der Verlust der immanenten Verbindlichkeit von Religion, ja deren Bestimmbarkeit überhaupt durch Auflösung der Konfessionen, läßt jedem Verantwortlichen ein nicht mehr bestimmbares Gegenüber erstehen, dem er nicht mehr vertrauen kann. Niemand weiß mehr, in welcher Ordnung, in welcher Verbindlichkeit er sich überhaupt befindet.

Gesetze haben den Sinn, eine kosmische Ordnung, in der sich eine Gesellschaft bewegt, zu sichern. Überwachung ersetzt mittlerweile aber die Ordnung des Kosmos durch eine nicht mehr bestimmbare Ordnung, die von Einzelinteressen genährt sind, und äfft Religion direkt nach. Denn ihr Argument der Abschreckung funktioniert nur, wenn diese Bewußtheit, überwacht zu werden, einem Du gegenüberzustehen, aufrechterhalten wird. Das heißt: es muß bekannt sein, daß man überwacht wird, zumindest in Österreich sogar per Gesetz. Aber wie so oft ist auch hier der vermeintliche Schutz erst die Steigerung der Effizienz der verheerenden Wirkung. Denn gerade das Wesentliche des Menschen ist nicht rational konstruierbar (im worteigentlichen Sinn) - so logisch es auch ist - sondern IST.

Sodaß schon der Versuch, der Glaube, die menschliche Würde rational-aufklärerisch aus einzelnen Dingen und Mechanismen heraus errichten, rekonstruieren zu können oder zu müssen (um sie dann darauf zu begrenzen) der eigentliche Verstoß gegen die menschliche Würde ist. Diese ist an sich unantastbar. Fällt ihre Heiligkeit an sich, fällt alles.

Und das ist nicht eingrenzbar, durch kein Gesetz. Auch das zeigt sich ganz real, man nehme nur die Autobahnüberwachung durch Kameras. Sie hatte ursprünglich den Sinn, Staus zu vermeiden. Mittlerweile dient sie der konkreten Einzelverfolgung von Vergehenstätern. Oder, wie erst jüngst ans Tageslicht kam, daß die Polizei längst schon die Überwachungsdaten der ÖBB-Bahnsteigkameras auswertet. Oder man denke an die bekanntgewordene, vom Gesetz nicht gedeckte Verwendung von Handydaten durch die Polizei in Berlin zur Erstellung von Bewegungs- und Gefährdungsprofilen. Kein Teilgesetz der Welt wird diesen Mißbräuchen jemals vorgreifen können, sondern sie werden aus sich heraus immer weiter wuchern - aus den Treibsätzen, die Grundsätze bedeuten. Die Welt wächst tatsächlich und ganz real (!) aus dem umfassenden Wort ...

Weil die Grundsatzdiskussion aber verfehlt ist, rücken die Grenzen ganz automatisch  nach, das ist unvermeidbar und systemimmanente Logik. Deshalb werden Einzelgesetze, die z. B. bestimmte (und nur das können sie) Datenverknüpfungen und -verwendungen beschränken sollen, niemals wirksam sein. Sie müssen ständig nachjustiert werden, und machen sich genau damit immer mehr angreif- und hintergehbar. Die Diskussion, die sich fast immer um "Datenmißbrauch" bekümmert, ist deshalb prinzipiell verfehlt und unwirksam. Sie wird NICHTS bewirken.
Und was mit "Google-Glass" auf uns zukommt, ist gar nicht mehr abschätzbar. Denn hier wird uns "Gott" in jeden Winkel nachkriechen.
Es gibt Dinge, die wir tatsächlich "nicht dürfen". Aber das läßt sich nicht von Einzelvorgängen her erfassen, sondern nur von Gesamtüberlegungen her. Daß so gut wie alle Dinge, in denen wir rational in Grundverbote eingreifen, auch defacto Katastrophen nach sich ziehen, ist nur Ausdruck davon. Das ist KEIN Aufruf zur Irrationalität - sondern zur Besinnung auf das, was Rationalität als Vernunft überhaupt IST und sein kann.




*Jeder Totalitarismus hat als eines seiner ersten Ziele die Verhinderung von Privatheit. Ohne das kann er gar nicht bestehen.


Teil 3 morgen) Ein Vortrag, der etwas Grundsätzliches zeigt




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