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Dienstag, 6. August 2013

Fundamentale Kehrtwendung (3)

Aber der Wechsel des Blickpunktes - vom WAS zum WIE - hat enorme Auswirkungen. Denn das Wesen eines Dings, das WAS etwas ist, trägt in sich auch die Beschränkung, was man damit anstellen kann. Wenn nur noch interessiert, wie es funktioniert, so ergibt sich alleine daraus keine Beschränkung, diese könnte höchstens dazukommen. Meist: aus funktionalen Zwecken. WEIL sonst auch dies oder jenes als Konsequenz folgt, etc. 

Man denke nur an die Abtreibungsfrage. Wenn klar ist, was das Wesen des Menschen ist, ist auch klar, daß die erste befruchtete Eizelle ein Mensch ist. Wenn das aber an Funktion gebunden ist, ergibt NICHTS mehr, was ein Mensch ist - außer Funktionalität. Deshalb führt die Abtreibung auf direktem Weg zur Eugenik und zur Euthanasie, der Mensch in seiner Würde "an sich" ist nicht mehr argumentierbar, der Schutz seines Lebens orientiert sich an dem, was historisch relativ als NÜTZLICH (=sinnvoll) erkannt wird.

Auch unsere vielgepriesene Toleranz bezieht sich nie auf das Wesen des Gegenüber - sie bezieht sich auf seinen Nutzen, seine Funktionalität. Wenn Grüne argumentieren, daß Zuwanderung ein notwendiges Mittel gegen den demographischen Wandel sei, so wird das Ausmaß der Brutalität, zu der solche Gedanken führen, sichtbar. Nicht der Fremde an sich ist das Kriterium, sondern der, der bestimmte Nützlichkeitskriterien (Ausbildung, Demokratieverständnis, Wertegefüge etc.) erfüllt. Nicht Leben und Lebensformen stehen sich damit gegenüber, sondern Nutzenerwägungen, die alles abknapsen, was an der Lebensform widerspricht. Und dazu wird mit Geld um sich geworfen, um die Lebensform anzugleichen. Damit kann man sich vor der eigentlichen Problematik gewisser Zuwanderung (im heutigen Ausmaß) - unweigerlich: Parallelgesellschaften, die sich nur in bestimmten Nutzenerwägungen treffen - elegant drücken.

Dasselbe gilt von der Informationsflut, mit der wir täglich überschüttet werden. Wir wissen immer mehr - von immer weniger. WAS all das überhaupt ist, womit wir es zu tun haben, in Physik oder Biologie, ist völlig entschwunden. Entsprechend wird die Informationsfülle, die wir erarbeiten, immer oberflächlicher funktionsbestimmend und -bestimmt, und widersprüchlicher. Das Wesen der Dinge wird uns immer fremder.

Aber damit wächst die Gefahr, daß unser Wissen, unser Verhalten immer wesenswidriger wird: daß wir genau das, was wir zu beherrschen vorgeben, in Wirklichkeit zerstören. Nutzung wird zur Ausnutzung, Indienstnahme zur Ausbeutung. Die Welt wird uns immer fremder, statt vertrauter, wir finden keine Wurzeln mehr in ihr, sie ist uns nicht mehr Heimat, sondern bestenfalls Ressource für erwünschte Qualitäten.

Die immer gigantischer gewordenen Bedrohungsbilder der letzten Jahrzehnte drücken das aus: Die Welt selbst scheint uns zum Feind geworden zu sein. Das früher Undenkbare ist zum Alltag geworden - die Erde könnte uns als Feind vertilgen. Früher? Früher barg sie, war Zufluchtsort. Heute sind wir von unserem eigenen Glauben an unsere Allmacht auch in der Schuld erdrückt, und entsprechend führen wir alles, was nicht mehr paßt, auf unser Fehlverhalten zurück, das sich bei Änderung der Mechanik, in der wir leben auch wieder korrigieren läßt. Die Welt sagt uns nur noch etwas über uns, wir sprechen nur noch mit uns selber - nicht mehr mit einem Transzendenten, Unwißbaren. Was früher Geheimnis war (und immer bleiben wird), ist heute das "noch nicht aber bald einmal Gewußte", und damit auch Beherrschbare.

Im selben Zug greifen wir nach der Sprache. Denn wenn Begriffe nicht mehr auf ein Ding an sich verweisen, auf ein Wesen, sondern bloße Bezeichnungen sind (Nominalismus), "flatus vocis", dann sind sie uns nicht mehr gegeben, sondern von uns lediglich zur Weltbeherrschung gemacht. Sie sind nicht mehr aufnehmendes, dienend-vernehmendes Gefäß für das Wesen der Dinge. Also können wir sie auch ändern: der Geist greift nach den Dingen, ordnet und beherrscht sie. Nicht er wird von den Dingen geformt. Begriffe werden zu leeren Formeln, die nicht mehr das Wesen der Dinge in sich tragen und in ihrer Historizität das je sich auch wandelnde Verhältnis zu diesem Wesen mit erzählen. Sie sind gleichfalls bloße Machtinstrumente. (Dabei werden sie in der willkürlichen Veränderung erst zu solchen!)

Wenn aber Sinn, Schönheit nicht mehr in den Naturdingen selber liegt, sondern nur noch im Subjekt, dann gibt es nichts mehr, an dem sich der Mensch freuen kann. Denn auch in seiner Freude begegnet er sich ja nur noch selbst. Die Welt hat ihm nichts mehr zu sagen. Selbst das Wetter ("Klima") erzählt uns nur noch von uns selber!

Aber selbst in der aus derselben Haltung heraus subjektivistisch, objektlos, konzeptionell gewordenen Kunst sehen wir uns nur noch selbst. Sie stellt uns nicht mehr das Verborgene des Wesens der Dinge vor Augen, sondern die seelischen Prozesse der Künstler werden zum Inhalt, seine Verfaßtheit. Kunstwerke werden "interessant", nicht mehr schön und ausdrucksstark (wovon?), werden Generierung von subjektiven Lebensgefühlswelten (Kunst als "ästhetisierende Lebensbehübschung"), statt Weltinhalt, der nur konkret sein kann. Sie überwindet damit nicht mehr - sie hat das Lächeln verloren, der Humor, die Heiterkeit wurde zum Sarkasmus, zum Zynismus. (So sehr wir genau darin tatsächlich unsere heutige Verfaßtheit gespiegelt sehen.)

Wenn wir heute einen Schwund des Selbst der Menschen beobachten, eine wachsende Selbst-Unsicherheit, so hat dies direkt mit dem Erleben dieser Welt zu tun. Wenn heute immer wieder in Studien sich zeigt, daß die jungen Menschen seltsam "angepaßt" sind, so aus dieser Angst heraus, daß es einen Moment geben kann - im Fehlverhalten - in dem die Welt uns ihr feindlichstes Gesicht zeigt. Und das heißt: der andere. Der ebenfalls nur an bestimmten Funktionen interessiert ist. Er selbst, sein Wesen, hat uns nichts mehr zu sagen. Facebook ist ein tragisches Beispiel dieser über Funktionalisierung erfolgten Entfremdung vom Du! Wenn aber das Du verödet, verödet auch das Ich. Denn dieses existiert im Austausch, im Dialog, in der Begegnung, dort kommt es zu seiner Eigengestalt. So wird man sich selbst unheimlich, sodaß man in das, was einen bewegt (Ohrhörermusik, oder das Wesen der heutigen - vor allem: lauten, oft wie hypnotisierenden - Musik!), flüchtet. Ja, er wird sich selbst ausbeutbare Funktion.
Gleichermaßen verändert sich seine Religiosität, so er noch eine will. Denn weil er (rationalistisches, wesenloses) Denken und Glaubensinhalt nicht mehr in eins bringt, wird ihm der Glaube zu einer irrationalen Willens- und Moralleistung, der jedes freie, wirkliche Denken zur Gefahr wird. Die er "durchstehen", die er "wagen" muß. Mit dem Verlust des Symbolgehalts der Welt wird ihm "Sinn" etwas, das er "setzen" muß. Während er für sein Selbst - nicht anders als der vor sich Fliehende - ständige Erlebnisse der Selbst-Vergewisserung braucht - kultische Akte werden von Orten der Transzendenz zu auch oberflächlich durchlebbaren Happenings, die kalkulierbares Wohlgefühl und Selbstgewißheit vermitteln müssen, am besten durch Gruppenereignisse, weil so auch soziale Geflechte für diesen irrationalen Grund "tragfähig gemacht" werden. Rationalität, Sinn wird gleichfalls umgebrochen in Zweck. Und sei es mit "wissenschaftlichen Berichten", daß "Religiosität helfende Effekte" habe.

Mit der letzten Konsequenz - der Überführung des "technischen Eros" in den Totalitarismus. Wenn alles bestimmbar, machbar ist, nichts mehr Eigenwert und Eigensinn hat, nur Zwecken dient, auch der Mensch, warum also ihn nicht "optimieren"? Wenn die Gesellschaft die höchste zweckhafte Form menschlichen Lebens ist - warum sie und ihre Elemente, warum die Wirtschaft, die Kunst, die Medienlandschaft nicht gezielt formen und benützen? Wenn die Erfassung aller Lebensvorgänge bis in die letzten Winkel nachzukriechen vermag - warum nicht sie dazu benützen, um alles Unerwünschte (weil Unzweckhafte) zu verhindern und zu eliminieren?

Es gibt dafür gar keine moralische Grenze mehr, wenn man nicht vom Wesen des Menschen und der Dinge als fundamentalster Wert ausgeht. Der Großteil der Menschen denkt längst so, und meint, es käme eben nur aufs Wohlverhalten an, auf die Tüchtigkeit, mit der er die erwünschten Zwecke verfolgt.

Wo liegt der Ausweg? Es gibt ihn, auch heute. Denn wenn es ein Wesen der Dinge gibt, so kann es in seinem Bestand nur bei deren Tod ausgelöscht werden, nicht, so lange sie bestehen. Dann ist alles nur eine Frage des Aufwachens.

Eines Aufwachens zur Wesenssicht der Dinge, eine Abkehr vom funktionalistischen Denken, eine immer wieder gestellte und erneuerte radikale Frage nach dem Sinn der Welt überhaupt. In einer Bereitschaft, dem Begegnenden zu dienen, am anderen zu ergänzen, was ihm fehlt, wie sich von ihm selbst ergänzen zu lassen. Im Sehenwollen des qualitativen Wertantlitzes von Menschen und Dingen, das ihnen selbst zukommt. Im Anerkennen des Zueinander der Dinge, im Begreifen der Welt als (im Zueinander) hierarchische Gliederung und Ordnung. Und im Begreifen, daß die Form der Dinge ihnen nicht zufällig anhaftet, sondern Träger ihrer Aussage ist.

Dann läßt sich auch Technik sinnvoll integrieren, dann läßt sie sich selbst zu ihrer eigentlichen Sendung - und die ist als Fertigkeit, als Techné eine hohe - befreien. Die dazu bestimmt, daß die Dinge ihre eigenen Potenzen, ihren eigenen Sinn als "für" und in einem "was-Gefüge" noch klarer erfüllen. Die nicht Selbstzweck ist, sondern stachelige Frucht, die rasch verfault, wenn ihr Einsatz nicht aus tiefer Wesensverankerung immer wieder neu bewertet wird. Der Ruf kann nicht lauten "Zurück auf die Bäume!" Er muß lauten: Zurück zum Wesen und zurück zur Ehrfurcht vor der Gestalt der Dinge, zurück zur Liebe zu den Dingen selbst, nicht zu ihren Effekten. Denn die Dinge und Menschen sind es, an denen wir das Wesen der Welt erkennen.

Jetzt, sofort. Nicht morgen, nachdem wir heute noch einmal technisch-zweckhaft korrigiert haben, was offensichtlich danebenging, nicht NACH der Energiewende und nicht NACH der Wirtschaftskrise, und nicht im nächsten Urlaub, aber dann. Jetzt. In dem, was in der nächsten Viertelstunde, und in jeder Viertelstunde darauf, herankommt. Im nächsten Baum, der einfach ... Baum ist. Wir werden dann staunen, wieviel diese Welt uns zu erzählen hat. Im nächsten Hochwasser, das nur eines ist: Hochwasser. In der nächsten Hitzewelle, die nur eines ist: Hitzewelle. Im nächsten gekauften Apfel, der nur eines ist: Apfel. In der nächsten Landschaft, die nur eines ist: Landschaft. Und so allmählich der Erscheinung der Welt gegenüber wieder sehend werden. Nur wenn wir ihr Wesen wieder sehen, uns von den Dingen füllen lassen, werden wir auch wissen, was sie für uns sind, was wir zu tun haben und wo sie und wir hingehören. Nur etwas, das etwas für-sich ist, kann etwas für-andere sein, wir können nur für ein Etwas ein Für sein, an dem wir etwas zu tun haben. Dann erst wird Kulturraum Daseinsraum für die Entfaltung der Welt.





*060813*