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Montag, 5. August 2013

Vorgestellte Bewegungsabläufe

Ein Neugeborenes, schreibt Palágyi, ist zwar vom ersten Moment an empfindungsfähig, aber nicht wahrnehmungsfähig. Es ist unkoordiniert in seinen Bewegungen, und das hat einen klaren Grund: Es kann sich eine Bewegung noch nicht vorstellen, und deshalb nicht zielgerecht ausführen. Nur durch das allmähliche Erlernen von Lokalisierung am eigenen Körper, kann es (im Zusammenwirken mit den übrigen Sinnen, dabei vor allem mit dem Sehsinn) Dinge auch im Raum lokalisieren.

Und es lernt, zielgerecht zu greifen, zu handeln, weil es lernt, sich Bewegungen in der Phantasie lokalisiert VORzustellen, um sie dann auszuführen. Solche Vorstellungen, solche vorgestellte Bewegungen, gehen jeder zielgeführten Bewegung voraus.

Aber sie sind nicht einfach als vorgestellte Bewegungsabläufe zu sehen. Sondern sie sind Lokalisierungsimpulse, die Reaktion aus der passiven Empfindung, der in Doppelgesichtigkeit jeder Empfindung (wird man berührt, so bildet sich sofort ein Gegenimpuls) eine aktive entgegensteht.

Und sie bauen auf dem Tastsinn auf (der sich dann mit dem Sehen verquickt): Aus der Selbstberührung, die zugleich - in einem Doppelgesicht - die Objekthaftigkeit des Berührten erschließt, erschließt sich Ortshaftigkeit (man weiß allmählich, wo man berührt wird), und daraus - in Koordination mit dem Auge - ein immer weitergreifendes Bezugsverhältnis zu Dingen im Raum.

Auch der Blinde baut deshalb ein (bzw. dasselbe) Raumgefühl (sogar: ein Tastsehen, so wie jeder Mensch im übrigen) aus, auch er ist in der Lage, sich Dinge vorzustellen, allerdings eingeschränkt auf eine ertastete Gestalt, er bleibt auf den Tastsinn angewiesen (bzw. ihm fehlt das Sehen). Doch vermag auch der Blinde ein Dreieck zu formen, es wird bestenfalls ungenau sein, weil er die überblickende Hilfe des Sehsinns nicht hat. Aber auch er hat Phantasie, sie ist nur eingeschränkter, und auch er lernt zielgenau zu greifen, eine Bewegung gesteuert durchzuführen, weil er aus dem Tasten heraus lokalisieren kann.

Wenn wir einen Gegenstand im Raum wahrnehmen, so tun wir das nur deshalb, weil wir ihn zuerst erfühlt haben. Daraus baut sich das Wissen um den Gegenstand auf. Gegenstände, die wir nicht mit unseren Händen "zeichnen", die wir uns nicht in unserer Phantasie vorstellen können, nehmen wir auch nicht ausreichend wahr, nur dort eben und darin, wo wir sie uns vorstellen können.*

Wenn wir als Erwachsene diesen Aufbau des Sehens auf dem Tasten nicht mehr unterscheiden und erfassen, so liegt das lediglich an unserer Gewohnheit, auch an einer Vernachlässigung des Tastsinns, mit der wir aus dem Sehen bereits den Raum und Eigenschaften ableiten.

Eine reine "Ortsempfindung" aber gibt es nicht. Sie leitet sich ab - vom Tastsinn, und vor allem von der Fähigkeit unserer Phantasie.**

Machen wir das an einem einfachen Beispiel deutlich (was Palágyi natürlich weit ausführlicher und umfassender in Begründungszusammenhänge stellt): Wenn wir die Hand auf die Öffnung eines Glases legen, und sei es nur über einen Teil dieses Randes, so erfassen wir nur deshalb "Kreis", weil wir aus den Sinnesdaten heraus bewußt eine entsprechende Bewegung imaginieren, die puren Empfindungen (die uns nie sagen würden, daß es sich um einen Kreis handelt) zu einer Gestalt schließen.

Die ganze Wirklichkeitsrelevanz der Geometrie (als Bewegungsformen) läßt sich so ableiten: Die direkte Phantasie und die inverse Phantasie finden am selben geistigen Ort statt.

(Wenn wie heute meist mit "Assoziation" argumentiert ist, so übersieht diese irrige Ansicht, daß der Sinneseindruck selbst zu keiner "Assoziation" fähig wäre. Vielmehr ist er durch den Eindruck selbst "gefesselt", die Wahrnehmung braucht also einen geistigen Akt der Ablösung - von der direkten zur inversen Einbildung - zu einer imaginären Gestalt. "Ähnlichkeit" oder "Kontrast" kann keine wirkende Macht an sich sein, denn sie braucht zuvor einen vom aktuellen ablösenden Akt, der sie vergleichend feststellt, die Bilder nebeneinanderstellt. Triebe, Gefühle, Affekte müssen erst "sehend gemacht" werden.)

Wir werden uns an dieser Stelle noch eingehender mit dem Zusammenhang Bewegung und Wahrnehmung anhand der Thesen Viktor von Weizsäckers auseinandersetzen.



*Der VdZ erinnert sich dabei an einen seiner Söhne, der in hohem Maß manuell-praktisch veranlagt war (und heute einen entsprechenden Beruf ausübt). Der zugleich mit hoher Phantasiekraft ausgestattet war bzw. ist. Dieser Bub stand nicht nur von einem Tag auf den anderen, kaum war er neun Monate alt, auf, und ging, und stieg mit beeindruckender Sicherheit selbst Treppen auf und ab, sondern stand mit derselben Sicherheit vom ersten Moment an auf Skiern und Eislaufschuhen und beherrschte die Bewegungsabläufe - er hatte sie sich offenbar so gut vorstellen, und in sich virtuell formen können, daß er sie auch problemlos auszuführen in der Lage war. Unvergeßlich, wie der staunende VdZ, dem die Zusammenhänge damals nicht klar waren, ihn durch seine tumbe Ängstlichkeit, mit der er ihn zur Sicherheit faßte, verunsicherte, woraufhin der Bub plötzlich genauso unsicher war, wie jedes Kind, das gerade das erste Mal auf Schlittschuhen steht und die Bewegungsabläufe "lernen" muß. War er zuvor mit einer kaum glaublichen Sicherheit auf geraden Kufen gefahren, knickte er in den Schuhen plötzlich ein, und stolperte "wie ein Anfänger" an des Verfassers Hand übers Eis.

**Wenn vielfach tatsächlich beobachtet (und in Testreihen belegt) werden kann, daß Frauen ein deutlich geringer ausgeprägtes Orientierungsvermögen, Raum- und räumliches Vorstellungsgefühl besitzen, wie Männer, so liefert Otto Weininger aus einer ganz anderen Richtung die Erklärung dazu: Sie haben im Durchschnitt eine deutlich geringer ausgeprägte Gabe der Phantasie. Wobei Palágyi sie noch unterscheidet: In eine direkte Phantasie, die sich auf die Gegenwart (ins Hinaus) richtet, und die inverse Phantasie, die sich aus der Gegenwart zurückzieht. Aus der Grundrichtung der Geschlechter läßt sich damit also die Differenz in der Phantasie auf die Einbindung der Phantasie in den Gesamtgestus der Welt gegenüber näher bestimmen. Die dem Mann als "zeugend hinausgewandtes Wesen" eine andere Ausformung der Phantasie zuschreibt. Das "Träumen" als Rückzug aus der Welt ist dann wohl wieder die Domäne der Frauen bzw. eines entsprechend weiblichen Charakters. Was sich nur auf die Grundpolung bezieht. Weil sich aktive wie inverse Phantasie in jedem Fall in einer Wellenbewegung als Phasen abwechseln: Jeder Mensch befindet sich in einem ständigen Rhythmus "zur Welt hin" - "von der Welt weg".


*050813*