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Donnerstag, 7. November 2013

Eine andere Sicht auf Rußland

Das Bild von Rußland, das im Westen besteht, ist vor allem durch grobe Unkenntnis der historischen Bedingungen dieses Landes gezeichnet. Zwar kam das Land bei der kommunistischen Revolution (die unter anderen Gesichtspunkten als Putsch bezeichnet werden könnte) 1917 vom Regen in die Traufe, aber die Entwicklungen seit Peter dem Großen, seit der "Aufklärung" im 17. Jhd., haben die Bereitschaft für die Sozialideen der Kommunisten ideal vorbereitet. Im Kommunismus faßten sich die Reformideen des 19. Jhds. zusammen. 

Die Geschichte Rußlands in diesen 200 Jahren läßt sich mit der im Westen nur bedingt vergleichen, geht aus den Schilderungen des renommierten russischen Historikers W. I. Kljutschewskijs hervor. Keineswegs war Rußland bis dorthin jenes unterdrückte Land des Schreckens, als das es durch maßgeblichen Einfluß der Propaganda der Sowjetunion, die das Bild fälschte, für das es gehalten wird. Es gab zwar Leibeigenschaften, aber die gab es überall. Das Bauerntum selbst war frei, stand keineswegs unter der Zwangsknute der Bojaren, der Fürsten. 

Ja es gab sogar so etwas wie eine parlamentarische Volksvertretung (den ständischen Verfassungen in Westeuropa vergleichbar), und es gab zwar harte, aber gerechte Gesetze. Das Land war geeint, Adel wie Bauern standen keineswegs gegeneinander, sondern alle atmeten im Rhythmus einer natürlichen gesellschaftlichen Hierarchie. Der Adel hatte zwar eine privilegierte Stellung, aber er stand durch seine Verpflichtung zum Kriegsdienst im Dienst des Landes, hatte einfach eine andere Aufgabe, und war keineswegs der Ausbeuter der einfachen Bevölkerung, zu der er dann wurde.

Die Mongolen hatten Rußland mit dem Mittel der Uneinigkeit, der Konkurrenz regiert. Um zu verhindern, daß sich eine starke zentrale Macht bildete. Was ihnen erst dann nicht mehr gelang, als sie selbst zu schwach wurden. Unter Iwan dem Schrecklichen (der aber im historischen Vergleich gar nicht so schrecklich war) wurde Rußland wieder frei. Auch wenn die Moskauer Fürsten die zentralistischen Herrschaftsmethoden der Mongolen weitgehend übernommen, sich in der Reaktion auf die Außenwelt angepaßt hatten, schafften sie es aber nie, das Land so zu kontrollieren, daß sie seine gewachsenen lokalen sozialen Strukturen ausrotten konnten, ihnen fehlten die Mittel dazu.

Die eigentliche Zentralisation nahm erst Peter der Große in Angriff. Der seine Modernisierung radikal durchsetzte, dabei dem Staatsbild nacheiferte, das in der Renaissance ganz Westeuropa erfaßt hatte und dort in den Absolutismus führte. Den Peter direkt übernahm (weshalb er in der UdSSR-Zeit sehr positiv dargestellt wurde.) Er vertauschte in seinem enormen Ehrgeiz, Rußland zu verwestlichen, die Begriffe "Gemeinwohl" und "gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit", und drückte mit Gewalt westliche Zivilisationsstandards und Verwaltung durch.

Rußland sollte eine Großmacht werden. Dazu zentralisierte der Zar den Staat endgültig, der sogar mehr und mehr als Unternehmer auftrat, was eine enorme Ausweitung der Bürokratie verlangte. Jeder Gesellschaftsbereich sollte "reformiert" werden. Ferner brauchte es ein großes, stehendes Heer. 'Rußland sollte in Eiltempo die 200 Jahre aufzuholen, die es dem Westen gegenüber* zurücklag. Das brauchte Geld, und brauchte es regelmäßig und kalkulierbar. Also wurde Macht und Eigentum in die Hände einer neuen Schichte der Gebildeten gelegt, die diese Steuerleistungen organisieren und garantieren sollten. Und - der Adel vom Zaren abhängig gemacht. Er sollte nun der Zentralmacht alles verdanken. Das Geschäft lautete: Privilegien gegen Freiheit.**

Damit wurden jene Erodierungsprozesse eingeleitet, die dann unter Katharina der Großen endgültig zur Einführung der Leibeigenschaft führten konnte. Wo dem vom Kriegsdienst befreiten (defunktionalisierten) Adel der gesamte Grundbesitz zugeschrieben wurde - samt den darauf befindlichen Bauern als Leibeigene.

Und jetzt spaltete sich das Land in zwei Teile: in eine Masse völlig entrechteter, eigentumsloser Sklaven, die in tiefe moralisch-geistige, demotivierte Dumpfheit absank, und eine adelig-bürokratische Minderheit, in der sich alles Eigentum und alle Macht konzentrierte. Diese Spannung baute sich im 19. Jhd. mehr und mehr auf, wo der Adel längst von moralischen Skrupeln geplagt unsicher wurde***, und entlud sich immer wieder, wurde aber mächtig unterdrückt. Bis die Ereignisse des 1. Weltkriegs das Zarentum, Rußland so schwächten, daß es die Gegenbewegung, die in ihrer Motivation ein ganzes Volk mittrug, nicht mehr aufhalten konnte.



*Rußland war über 300 Jahre, bis 1547, von den streng zentralistisch organisierten Mongolen beherrscht. Das "tatarskoje igo", das "Tatarenjoch", hatte eine natürliche Eigenentwicklung unterdrückt.

**Westeuropa hatte sich (grosso modo, sieht man von Frankreich ab) anders entwickelt: die Stellung des Kaisers war zunehmend schwach geworden, sodaß er das Bürgertum brauchte, um sich gegen den starken Landadel zu behaupten. Weshalb das Reich noch im 19. Jhd. aus 500 deutschen Einzelstaaten bestand. Der Kaiser war vom Adel abhängig - Zar Peter der Große kehrte das um. Was in Deutschland erst Bismarck - mit dem Bürgertum als Stütze (Folge? Der erste Sozialstaat wurde geschaffen!) - gelungen war. Staats- und Nationalromantiker nennen das heute noch "Einigung".

***Die vielfältigen, oft sehr radikalen Ideen zur Sozialreform stammten sämtlich aus dieser Schichte, die auch die Gebildeten stellten. 





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