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Donnerstag, 28. November 2013

Neulich im Stiegenhaus

"Es ist," meinte Frau G, "weil unsere Generation keinen Krieg mehr erlebt hat. Unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern - sie alle haben erlebt was es heißt, nichts zu haben. Nur so können sie schätzen, was Dinge wert sind, über alles Geld hinaus."

Sie trifft einen Kern der Sache. An dem jüngste Zeitungsberichte vorbeigehen, in denen zu lesen war, daß die Jugend der Gegenwart sich wenig aus Dingen mache. Ganz so, so stünden wir vor einem neuen Zeitalter der Askese. Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber, die im verwaschenen Horizont der Selbstverständlichkeit untergehen, ist nicht Askese. Es ist Weltverlust, sehr real im Verschwinden des Raumes festzustellen. Es ist Weltverlust, weil die Dinge in ihrem Entstehen keine Beziehung mehr aufbauen, zu bloßen abstrakten Faktoren in einem abstrakten Funktionsmodell werden. Schon von Kindesbeinen an wird ein Wirklichkeitsumfeld geschaffen, in dem immer jemand oder etwas verantwortlich dafür ist, daß die Dinge, mit denen wir umgehen, vorhanden sind. Steht etwas nicht zum bloßen Gebrauch bereit, springen zahllose Mechanismen ein, die seine Verursachung erzwingen wollen.* Und nur in diesen Beziehungen sind sie überhaupt erst geschichtlich und wirksam, denn nur Beziehung bedeutet Wirkung, Wirkung ist Beziehung - Wirklichkeit.

Was ist, jedes "Ding", ist es selbst durch und in seinen Beziehungen zur Mitwelt. In der alles miteinander verhangen ist. So wird Raum geschaffen, aus dem abstrakten, allem vorgängigen "Raum an sich" (den man sich genau nicht konkret vorstellen kann), der jeder konkreten Räumlichkeit vorhergehen muß, heraus. Raum ist die Bedingung wie das Ergebnis alles Seienden. Und damit Beziehung. Die nur besteht, wenn die Entstehensvorgänge der Dinge sinnlich erfahren werden. Die Abstrahierung dieser Vorgänge ist Folge (als geistiger Akt) aus der Sinnlichkeit (die der Geistigkeit zwar als Bedingung, nicht aber ursächlich abhängt!), und insofern eine Frage der Persönlichkeitsreife, die nur auf dem Boden einer wirklichkeitsgesättigten weil sinnlichen Raum- und Dingerfahrung gedeihen kann.**

"Es geht uns zu gut," meinte G dann. "Alles steht einfach zur Verfügung. Das ist nicht gut." Sie hatte Schweres durchzustehen, und hat es noch. Das merkt man. Die Mühe der Entstehung, die so vielen schon fehlt und damit ein Grundklima geschaffen hat, in dem niemand mehr eine Ahnung hat, wie etwas überhaupt wird, das Leid das sie erfahren hat, das erst macht den Wert der Dinge (und Menschen) erfahrbar. Man kann staunen, wieviel Weisheit und Weltkenntnis einfachste Menschen sammeln, wenn sie die Chance dazu haben.




*Das bedeutet auch ganz klar, daß der Förderwahn der Gegenwart das Wesentliche am Erreichen der Dinge in der Selbstwirklichung genau verfehlt. Es geht nämlich nicht um die "Dinge an sich", es geht um die Beziehung, in denen sie stehen. Und diesem Werterfahren fehlt damit die Historizität. Geförderte Erfolge sind gar keine Erfolge. Sie sind Schimären. Allem aus solchen Bedingungen Entstandene fehlt ihr Wesentliches: die Beziehung zu seinem Sein, die eine Beziehung zu seinem Entstehen ist. Jede "Idee", die solchen Charakterformungen und Haltungen entspringt, hat deshalb vor allem eines: fehlenden Sinn für die Möglichkeit. Sie schreit nach jenen künstlichen Laborbedingungen, die es in diesem begrenzten Rahmen hervorbringen. Aber damit eine ganz andere Wirklichkeit schaffen, auch und gerade mit diesen solcherart hervorgebrachten Dingen.

**Der Mensch ist von Raum und Zeit abhängig. Vom Raum wegen der Inhaltsfolge, aus der heraus alleine Eigenschaftlichkeit abstrahierbar ist, und von der Zeit wegen der Zustandsfolge. Selbst, wenn der Geist selbst nicht raumzeitlich ist, ist er an Raum und Zeit gebunden. (Siehe u. a. die sehr klare Darstellung des Problems bei Hans-Eduard Hengstenberg, "Der Leib und die letzten Dinge") Abstraktivem Denken ohne diese Raum-Zeit-Erfahrung fehlt die Wirklichkeitsdimension, die kein abstraktiver Faktor ist, sondern Bedingung des Denkens überhaupt.




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