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Freitag, 6. Dezember 2013

Ins Gegenteil umgeschlagen

Es wäre verfehlt zu meinen, daß der von der Kirche und Religion völlig getrennte weltliche, säkulare Staat ein Erfingung weltlicher Politik wäre, schreibt Henri Pirenne. Und macht auch hier eine Linie der Entwicklung sichtbar. Denn vielmehr ist der säkulare Staat eine direkte Folge kirchlicher Entscheidungen.

Die Entwicklung ist freilich komplex. Und sie drückte sich im Investiturstreit im 11./12. Jhd., der in jeder Hinsicht gegenteilig ausging, als Kirche und Kaisertum gewollt hatten, erstmals prägnant aus. An dessen Ende die regionalen Fürsten und das sich in dieser Zeit erstmals entwickelnde Bürgertum als Sieger dastanden.

Im 10. Jhd. war das Papsttum völlig den Ränken und Begierlichkeiten römischer Adeliger und italischer Fürsten unterworfen. Es gab bis zu drei Päpste gleichzeitig, die von je einer Machtgruppierung eingesetzt worden waren. Bis Otto III. die päpstliche Macht getreu seinem (sehr hohen, idealen) Selbstverständnis als Protektor der Kirche wiederherstellte, ordnete und schützte, was für die Kaiser vorerst zu einer Daueraufgabe wurde. Weil es zu einer Einsetzung der Päpste durch den Kaiser führte. Aber damit wußte sich die Kirche immer mehr eingeschnürt und abhängig. Der Kaiser hatte sie sich selbst zum Gegner gezüchtet, denn in der Kirche selbst regte sich ein neues Selbstverständnis, ausgelöst über Reformbewegungen, die auf mönchisches Potential zurückgriffen. Mit der bedeutendsten Bewegung - jener von Cluny.

Sehr rasch wuchs der Kirche eine ungeheure Reputation und geistliche Macht im Volk selbst zu. Während der Kaiser fast zwangsläufig zunehmend Mönche aus dieser Erneuerungsbewegung wählte, um sie zu Päpsten einzusetzen.

Doch diese aus ihrer Natur heraus weltabgewandte, mönchische Reformbewegung bedeutete einen völligen Rückzug der Kirche aus der Welt, eine völlige Entflechtung, bis hin zum definitiven Verbot der bis dahin oft tolerierten Priesterehe im Jahre 1022. Sie wurde in ihrer Selbstdefinition zu einer heiligen, unantastbaren, reinen göttlichen Einrichtung, in die kein Mensch einzugreifen hatte. Und dieselben Päpste, die ihre Investitur dem Kaiser verdankten, ergriffen bald Maßnahmen, um sich aus dieser Macht zu lösen. Und sie stießen gleichzeitig den weltlichen Staat der Fürsten auf sich selbst zurück. Während das Reich des Kaisers (das nicht als Staat aufzufassen war und ist) zu einer Institution wurde, die sich völlig der göttlichen Salbung verdankte, damit vom Papst abhängig war. So sah es im 11. Jhd. auch das Volk. Nicht zuletzt auf dieses neu entfachte Selbstbewußtsein ist auch die Kirchenspaltung mit Byzanz 1054 zurückzuführen.

Was alles für das Bürgertum, das durch den aufkommenden Handel im Norden Italiens zuerst sich regte, ein willkommener Anlaß war, sich aus kaiserlichen Verpflichtungen loszusagen. Erstmals entwickelte sich also ein bürgerlich-politisches Selbstbewußtsein, das sich von der übergeordneten Macht emanzipierte. Während sich das Kaisertum selbst in seiner realen Macht ohnehin nur noch auf Deutschland bezog, weil sich der überwiegende Rest Europas - die slawischen Länder, oder Frankreich - schon zuvor emanzipiert hatte.

Wenn gleichzeitig, wie es schließlich Gregor VII. 1076 festlegte, der Kaiser keine Bischöfe mehr einzusetzen hatte, so nahm er diesem aber die Säulen seiner (weltlichen) Macht. Die die schon von Beginn unter Karl dem Großen an machtlosen Kaiser durch Einsetzung und Belehnung von Bischöfen mit Ländern mühsam aufgebaut hatten. Denn aus der Entwicklung des Kaisertums seit Karl dem Großen heraus, waren die Bischöfe, war die Kirche die bewußte und entscheidende Säule des Kaisertums überhaupt. Nahm man dem Kaiser den Einfluß darauf, schwächte man ihn politisch - und mit ihm zugleich den Schutzherren der Kirche. Die Kirche mußte sich also andere Allianzen, eigene Machtpolitik suchen, und tat es auch, wie etwa in der Allianz mit den Normannen - gegen den Kaiser, oder der späteren Anlehnung an Frankreich.

Nun waren aber in Deutschland die (meisten) Bischöfe mit Lehen belehnt, waren zugleich Landesherren. Ihnen diese Lehen zu entziehen, was einzige Möglichkeit des Kaisers gewesen wäre, hätte ihn nun in offenen Konflikt mit der Kirche gebracht. Kaiser Heinrich V., der Sohn Heinrich IV. (Canossagang ...), wagte bereits nicht mehr, Bischöfe zu investieren. 

Gleichzeitig war den Landesfürsten diese Regionalisierung der Kirche ja sehr recht, denn so konnten sie direkteren Einfluß auf die jeweiligen Bischofswahlen nehmen und damit ihre eigene Macht vergrößern - die regionalen Konsistorien, die die Bischöfe wählten, bestanden zudem vorwiegend aus adeligen Söhnen. Auch hier also war das Ziel einer Straffung der Kirche, vor allem auch in ihrer sittlichen Kraft, ins Gegenteil umgeschlagen: Noch nie waren die Bischöfe derartig unter der Fuchtel der Landesfürsten gestanden, wie im 11./12. Jhd., wenn auch in einer seltsam erscheinenden Doppelgestalt. Einesteils wurde mit der Kirche politisch gewillfahrt, anderseits wurde sie von denselben Fürsten (und vom tief religiösen Volk) mit Schenkungen überhäuft - in dieser Zeit entstanden erstmals wirkliche kirchliche Reichtümer, entstanden erstmals die prächtigen Dome und Klosteranlagen.

Aber der Einfluß des seiner Macht völlig entkleideten Kaisers auf diese Fürsten war noch nie so gering gewesen, was nicht zuletzt durch den Umstand möglich wurde, daß es zu dieser Zeit keinen größeren Angriff ausländischer Völker (im Osten) gab, der eine kaiserliche Zentralmacht ins Interesse aller Fürsten gestellt hätte. 

Gleichzeitig hatte die Kirche selbst die Entwicklung rein säkularer, von der Religion getrennter Staaten provoziert.* Und das war historisch ein Novum. Denn nie und nirgendwo in der Geschichte, weltweit, hat sich weltliche Macht auch und vor allem in den Augen der Menschen völlig von göttlichem Auftrag getrennt. Nur in Friedrich II., dem Stauferkaiser, hat sich dieser Konflikt noch einmal ausgetragen. Er endete mit der Niederlage des Kaisertums, und der Entwicklung autonomistischer, später nationaler säkulärer europäischer Staaten, die sich aus dem Bürgertum nährten.

Ein deutscher Reststaat - denn es waren bereits die Separatgründungen Schweiz, Niederlande, Luxemburg, Österreich, oder etwa die Franzisierung Lothringens bzw. des Burgund zuvorgegangen - hat sich aus dieser Entwicklung heraus ... erst im 19. Jhd. entwickelt.




*Die Idee des Reichs und Kaisers ist aber die einer "mystische Ehe", unauflöslich und in einem wechselseitigen Rhythmus mit der Kirche gekoppelt, weil sie nur so die Doppelnatur der weltlichen Macht (geistlich und politisch) in der Inkarnation des Reiches Gottes, der Kirche also, verkörpert. Die spätere Entwicklung des Kaisertums läßt sich als notbedingtes Ringen um weltlich-politische Macht, zu deren Faktor sie reduziert wurde, definieren, wo die Kaiser dieser reinen Idee in der Suche um ihr zweites Bein sogar oft treuer blieben, als die Kirche, die nicht selten ihre Rolle verweigerte, selbst jenes Bein, das sie selbst sich abschlug, zu ersetzen suchte. Und ihr "Bündnis mit dem Thron" immer wieder neu zu gründen suchte. Die Milch war aber bereits damals verschüttet.  





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