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Dienstag, 12. August 2014

Argumente

Man muß natürlich vorsichtig sein in seiner Meinungsbildung über größere politische Zusammenhänge, denn dem gemeinen Mann stehen nur sehr ausgesuchte Informationen zur Verfügung. Auch die Kenntnis von Personen in den betreffenden Ländern hilft oft nur wenig, im Gegenteil kann es den Blick noch deutlicher trüben. Denn das Abstrakte läßt sich erst erkennen, wenn man von eigenen Interessen absehen kann.

Aber was Vaclav Klaus in diesem Artikel über den Fall Ukraine - Rußland schreibt, deckt sich so weitgehend mit dem hier Vorzufindenden, daß der VdZ aus dem vorhandenen Material schon recht gut gedeutet haben dürfte. Aus dem er lediglich Prinzipien ablas und Vektoren anlegte. Klaus, der gewiß mehr Einblicke hat (und als Präsident der Tschechei hatte) als der VdZ bestätigt das nun noch durch zahlreiche Details. Die der geneigte Leser dort im Wortlaut nachlesen möge.

Die Ukraine, so interpretieren wir Klaus, hat es bis heute nie geschafft, einen stabilen Staat aufzubauen. Wirtschaft und politische Strukturen sind in den zwanzig Jahren seit ihrer formalen Unabhängigkeit nie ausreifend zu einem Staat gereift, das Land ist völlig heruntergekommen und hat keine staatliche Tradition, an die es anknüpfen könnte. Mit dem Konflikt West- und Ostukraine, mit vorwiegend russischer Bevölkerung, zugleich aber dem wirtschaftlichen Schwergewicht des Landes. Und - mit größerer Rußlandnähe. Die Unzufriedenheit, die sich so leichtfertig über demokratische Prozesse hinweggesetzt hat, ist deshalb in der Westukraine beheimatet. Und dort sucht man das Heil in einer Integration in die EU mit starker Anlehnung an die USA. 

Das wollen aber die Russen der Ostukraine aus verständlichen Gründen nicht. Detail am Rande: die offiziellen ukrainischen Soldaten auf der Krim sind nach deren Unabhängigkeitserklärung und (von Rußland angenommene) Bitte um Anschluß an Rußland in Scharen zu den Russen übergelaufen. 

Sie sehen das eigentliche Rußland in relativer Ordnung und mit immer besser funktionierender Wirtschaft, die auch Wohlstand schafft, dastehen. Es hat diese Transformationen seit der Wende wesentlich besser bereits bewältigt, ja hat es sogar geschafft, sich wieder auf der Weltbühne zurückzumelden. Die Dämonisierung Putins durch den Westen ist, so Klaus, nicht Politik der EU, sondern Ablenkungsmanöver um zu verschleiern, daß die EU gar keine Strategie - und schon gar keine Einigung im Inneren darüber - hat. Außer das neblichte und auffällig amerikabezogene Ziel, ihren Einfluß bis an die Grenzen Rußlands zu erweitern. Das gehört aber nicht zu den Zielen etwa der Tschechei, die an einer Verschärfung nicht interessiert sind und Rußland nicht in die Enge treiben wollen. Denn das tut die EU.

Das Argument, daß die separatistischen Bestrebungen deshalb zu verdammen seien, weil sie sich gegen die ukrainische Verfassung richteten, sei schlichtweg hanebüchen. Denn dann hätte es in der Weltgeschichte nie Veränderungen gegeben. Selbst die Tschechei hat ja 1918 gegen die Verfassung Österreich-Ungarns verstoßen. Gesetze haben nur dann Sinn, wenn sie von der Bevölkerung getragen werden. Staatsgrenzen müssen dem Empfinden der Menschen Rechnung tragen. Weicht das Rechts- und Raumempfinden der Menschen ab, werden sie sich über kurz oder lang auch durchsetzen und jene staatlichen Ordnungen suchen, die es befriedigen.

Und dennoch muß man größte Vorsicht anmahnen: Denn was Klaus nicht bewußt sein will (und die Gründe dafür sind evident: er würde seine eigene Legitimität damit in Frage stellen) ist, daß er gefährlich mit der Auflösung des Staatsbegriffs jongliert. Wenn aber Staaten nicht mehr souveräne, respektierte und generell gleichwertige Subjekte des internationalen Handelns (in einem kollektiv geordneten Raum) sind, dann bleibt kein einziges wirklich substantielles Subjekt mehr übrig. Dann löst sich jeder Rechtsraum auf. Und so weit scheinen wir ja längst zu sein: In einem Zuhalten auf Zustände der Gewaltverhältnisse, wie wir sie vor 1500 Jahren in mühsamem Voranschreiten bereits überwunden haben. 

Wo sich die Subjekte als solche selbst definieren, und - eiderdautz - immer kleinere Gemeinschaften werden, bis es nur noch Einzelpersonen sind, und denen fehlt erst recht der Status als gleichwertige Partner. Man kann sich nicht einfach als Subjekt selbst definieren. Wo das geschieht ist die Provokation des anderen notwendige Folge, denn Subjekt bedeutet immer die Gleichzeitigkeit der Gegebenheit DURCH DEN ANDEREN mit. Es ist deshalb nicht zufällig und Symptom, wie widersprüchlich heute schon argumentiert wird, wenn es um Kriterien für Staat und Völker und Selbstbestimmung etc. geht. Hier ist es der Wunsch einer Volksgruppe nach Autonomie der zählt, dort gilt er plötzlich nicht mehr. Hier ist es religiöse Gemeinschaft, dort plötzlich nicht. Hier völkische Merkmale, dort sind sie verpönt. Hier die Forderung nach Staatsauflösung, dort nach Souveränität eines Staates. All das sind warnende Zeichen des Verlusts des Bodens für Recht, das nicht einfach positivistisch gesetzt gedacht werden kann. Aus Pragmatismus, wie Ordnung und Gesetz seit Kant so verkehrt daherkommt, weil es nicht mehr mit den Dingen in Zusammenhang gesehen werden kann. (Kants Vernunftbegriff bleibt ja "blind".)

Es ist der Verlust des Bezugs zu unserer Vergangenheit, daß wir uns nicht mehr vorstellen können und unseren Vätern nicht mehr glauben, was es wirklich heißt, in einem (völker-)rechtsfreien (und substantiell religionsfreien, säkularisierten) Raum leben zu müssen, in dem sich jeder selbst sein Recht verschaffen muß. Denn das ist dann wirkliche Hölle auf Erden, mit der Europa so leichtfertig spielt.




*120814*