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Freitag, 6. Februar 2015

Recht geht vor Staat

Jeder Staatsbegriff, der nicht davon ausgeht, daß dem Staat an sich das Recht an sich vorausgeht, sondern der Recht aus sich, aus der Macht also, ableitet, führt sich selbst ad absurdum. Denn er konstituiert sich genau nur aus dem Bezug auf seine Funktion als Mittler und Garant des Rechts - nicht der Macht. Carl Schmitt belegt dies in "Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen" außergewöhnlich sauber und klar.

Recht aber hat nur Sinn, wenn es als Norm verstanden wird. Nur darauf also kann sich auch die Legitimität eines Staates beziehen - als Vollzugsorgan des Rechts, und damit jener Norm, die dem Lebensvollzug seiner Bürger, die sich im Staatswillen zusammengefaßt sehen bzw. deren Willen es ist, "Staat" zu sein, selbst zugrunde liegt. So ist das Auffassen des Analogon jeden Rechts - Sittlichkeit - auch zu begreifen. Recht aber ist etwas völlig anderes als Sittlichkeit!²

Deckt sich deshalb der Normenbezug der Bürger nicht mit dem faktischen Rechtssystem eines Staates, verliert der Staat seine Legitimität und Macht, ihm bleibt bestenfalls noch die Gewalt als Gewalt einer machtinteressierten Gruppe.³

Damit ist der Finger auf die Wunde des "Pluralismus" gelegt, auf den heute so manche stolz sind. Denn ist die Normenquelle der Bürger nicht mehr einheitlich, zerfällt auch das Rechtssystem. Weil die Interpretation der Gesetze - die immer auf die Norm hin erfolgen muß, die sie ja zur Durchsetzung bringen soll - ihren einzig möglichen Anhaltspunkt verliert. Damit führt sich religiöser Pluralismus gleichermaßen ad absurdum, weil nur Religion (als Bezug auf das Absolute) diese Norm in Kontinuität verwalten kann.* Denn im Gesetz wird eine in der reinen Norm noch quasi frei seiende Pflicht zum Zwang durch eine weltliche Macht, den Staat, und nur aus jener Norm kann sich dieser Zwang rechtfertigen. 

Was aber, wenn diese Norm in einer Bürgerschaft auseinanderklafft?**

Das war bis in die mittlere Neuzeit noch jedem Herrscher klar. Und darin gründen Leitsätze wie "huius regio cujus religio". Als schon rein faktische Notwendigkeit EINER einheitlichen Religion als Bezugsquelle der Norm, sodaß im Gesetz diese Norm als Verbindlichkeit und Zwang für alle Bürger gilt. Denn es ist nur der Staat, der kraft seiner Macht eine Norm durch Gesetze erzwingen kann, nicht die Norm aus sich. Das sind zwei verschiedene Sphären, die in einem Staat aber zur Deckung kommen müssen, weil sonst die Bürger (oder ein Teil von ihnen) nicht mehr an seiner Legitimität festhalten kann.

In dem Moment auch, wo der Staat seine positive Rechtssetzung rein aus dem Faktischen nimmt, zerstört er deshalb gleichermaßen seine eigene Legitimität, weil seinen Sinn. Recht wird zur reinen Frage der Macht, sich faktisch durchzusetzen. Damit wird jede Rechtssicherheit zerstört, der Staat ist nicht mehr Rechtsstaat.

Seltsamerweise wird dieses so fundamentale Problem des Staates als Rechtsstaat in der Frage der Migration, der Zuwanderung, der Integration, bis heute nicht ernsthaft öffentlich diskutiert. Dabei ist es genau diese Frage, die längst als faktisches Problem aufgetaucht und bekannt ist. In eigenen Rechtsräumen, die sich in deutschen Städten bereits gebildet haben, und die die Autorität des Staates nicht mehr anerkennen, weil (durch den Normenbezug aus anderen Religionen etwa) anerkennen können. Weil sie sich auf unterschiedliche Normengefüge und -quellen beziehen. 

Und sie düpiert den aus christlicher Barmherzigkeit und Anthropologie erwachsenen Grundsatz, daß eine Schuldfrage nicht ohne Heranziehung der Erkenntnis der Normenbedeutung des Beschuldigten gewichtet werden kann.

Fehlt dieser "freiwillige" Normenbezug, so wird das Recht als Gesetz, das sich ja nur auf äußere Handlungen beziehen kann, fast zwangsläufig zur bloßen Rechts- und Gesetzestechnik. Die jene bevorzugt, die diese Technik am skrupellosesten ausreizen.




²Darum irren alle die, die meinen, Recht wäre ein Zweck, wäre dazu da, um die Menschen sittlicher zu machen. Nur von dort her, übrigens, ist deshalb Rechtsetzung und -sprechung sinnvoll zu kritisieren: Vom Begriff und Begreifen von Sittlichkeit, was sich seit der Aufklärung zum "pädagogischen Streit", der viel fundamentaler ist, als die meisten Heutigen es sich vorstellen, entwickelt hat. Ja, die sich meist nicht einmal vorstellen können, daß es hier tatsächlich völlig gegensätzliche, und tief argumentierte Gegenauffassungen gibt. Und deshalb müssen alle jene auch scheitern, und das ist historisch belegbar, die meinen, man könnte die Sittlichkeit eines Volkes durch Gesetze heben. Woraufhin der Staat und das Gesetz in Polizei aufgehen. Denn daraus erwächst automatisch die Sicht der Gesetze, des Staates, als göttlich, und damit die Legitimität von Zwangsmaßnahmen der "Sittlichung". 

Man kann Sittlichkeit - durch falsche Gesetze - allerdings zerstören.

³Diese Gruppe als durch "Mehrheit" legitimierte Plutokratie-Diktatur zu sehen, d. h. aus der Mehrheit gewisser Wählerstimmen auch prinzipiell recht-schaffende (nicht: setzende, oder vollziehende) Kompetenz abzuleiten, ist eine der Errungenschaften der sogenannten modernen Demokratie, in der sich das Recht aus dem Faktischen, nicht aus der Norm ableitet. Übrigens: Eine der Nachwirkungen Hegels, dem das Faktische eines Gegenwärtigen - als "Synthesis" historischer Vernunft=Gott=Seins-Dialektik - zum damit auch Guten, Absoluten gerann.

*Das steht hinter dem Schritt des Staates, eine Religion "anzuerkennen": er muß prüfen, ob sie, die ja nur eine Selbstbehauptung sein kann, mit seinem Rechtssystem und damit der diesem sinngebenden Norm prinzipiell vereinbar ist, und wieweit Ausnahmen, die deren Norm erzwingt, verträglich sind. Er DARF sonst einer Religion ihre freie Ausübung in seinem Rechtsbereich gar nicht zugestehen. Es sei denn, er akzeptiert und verwaltet unterschiedliche Rechtssysteme. 

Was es in Europa bis heute übrigens gibt, wie z. B. in Spanien, wo das alte Grundrecht der Vandalen für bestimmte Bevölkerungsgruppen noch gilt, obwohl es vom allgemeinen Grundrecht Spaniens abweicht. Und wer die frühere Verfaßtheit von Universitäten (speziell bis ins 18. Jhd.), oder heutige Standesgerichte, oder "Tendenzbetriebe" wie die Kirche, oder die Militärgerichtsbarkeit (und noch viele andere Bereiche, bis hin zu Betriebs- und Hausordnungen) betrachtet, trifft auf dieselbe Situation eines mehr oder weniger ausgebauten, parallelen, teilautarken Rechtssystems.

Die Gefahr, der sich ein Staat aber damit aussetzt, ist, daß er zumindest tendentiell seine politische Handlungsfähigkeit (man denke nur an die Außenpolitik) einschränkt, weil er sich in jedem Fall schwächt. Das kann einerseits erwünscht sein (man denke an die Integrität von Familien als Rechtsraum, der heute fast ganz aufgelöst ist), anderseits bedrohlich werden.

Dieses Problem war in der Vergangenheit deshalb manchmal scheinbar kein Problem, weil der Normenbezug aller Staatsbürger, selbst ihre Lebensführung, ursprünglich mehr oder weniger europaweit einheitlich war. (Und man unterschätzt meist die Reisetätigkeit der damaligen Zeiten, das Maß des Austausches, der wechselseitigen Einflußnahme, gehörig.) Das gilt auch für die Kirchenspaltung unter Luther, denn noch jahrhundertelang hielt eine ursprünglich gleiche religiöse, kulturelle Prägung der Menschen. Erst allmählich begann die andere Lehre und Praxis real zu wirken, und heute erkennt man Protestanten und Katholiken an weit mehr, als ihnen lieb sein mag: an der Persönlichkeitswurzel. 

Auch die berühmte Religionstoleranz der KuK-Monarchie beruhte darauf, blieb aber schon nicht ohne Folgen: Die zunehmende innere Schwäche der Monarchie im 19. Jhd., die sie dann 1918 so leicht zerfallen ließ, ist nicht zuletzt auf diesen Pragmatismus zurückzuführen. 

Die Frage stellt sich heute aber weit vehementer, weil der Lebensvollzug auseinandergefallen ist, und hat schon deshalb zu einer weitgehenden Auflösung paralleler Rechtsräume geführt.


**Mit dem Stichwort der Religionsfreiheit, auch in katholischen Dokumenten wie "Lumen Gentium", wird - wie in anderen Bereichen auf exakt dieselbe Weise - deshalb meist Mißbrauch getrieben. Denn zwar ist richtig, daß kein Mensch zu einer Religion gezwungen werden kann, weshalb ihm Freiheit zuzugestehen ist, ja sich Heil ohnehin nur in Freiheit ereignen kann. Aber für einen Staat heißt das noch lange nicht, daß er Menschen anderer Religion auf seinem Staatsgebiet (das nur ein Volksgebiet sein kann) in jedem Fall dulden oder aufnehmen muß. Eine Religion (und damit ein Rechtsempfinden/Normenbezug) KANN gar nicht glauben, daß auch die andere Religion zum Heil führt, sie (es) würde sich damit auflösen. Sie kann diesem nur mehr oder weniger (nicht) im Wege stehen. Aus etwas, das richtig ist, läßt sich noch lange nicht schließen, wie damit zu verfahren ist. Es gibt deshalb kein Staatsvolk ohne konkrete und verbindliche Lebensform. Und solche Form und "alles ist möglich" schließt sich aus. Letzteres gibt es nämlich gar nicht.

Nehme man aber durchaus ein konkretes Beispiel zur weiteren Illustration: Wenn die Türkei sich nun (das Motiv einer Zurüstung als EU-Braut wollen wir hier einmal beiseite lassen) als religionstolerant zu positionieren sucht, steht sie vor einem ganz anderen Problem als Deutschland oder Westeuropa. Denn in der Türkei sind nur noch knapp 0,1 % der Bevölkerung, 30-100.000 insgesamt, verstreut lebend noch dazu, Christen bzw. Nicht-Muslime. Darf man die Vorstellung gemühen bei der Frage, was oin der Türkei passieren würde, wenn eine Auswanderungsbewegung nach Antalya binnen 20 Jahren 4 Millionen deutsche Christen dorthin verbrächte, die den Anspruch erheben, sich vom Land zu ernähren, und 800 Kirchen (alleine im Rhein-Ruhr-Gebiet gibt es über 800 Moscheen) bauten?

In Deutschland aber leben alleine in Berlin Kreuzberg oder in Wien Favoriten MEHR (vorwiegend türkische) Muslime, als Christen in der Türkei. Mit eigenen Rechtsräumen, die - unter Duldung! - das staatliche Rechtssystem nicht anerkennen. Die Türkei muß niemals fürchten, daß Christen ihre Kultur und ihr Rechtssystem umprägen. Da läßt sich leicht großzügig sein, indem man auf das Abschlachten der letzten Christen verzichtet und ihnen sogar einen Kirchenneubau gestattet. In Deutschland und Österreich aber sind Muslime (bzw. türkische Muslime) eine hochrelevante Bevölkerungsgruppe von Kulturrelevanz geworden, mit 6-10 % der Bevölkerung (eine exakte Erhebung ist schwierig, weil es keine quasi islamische Kirche gibt.) Da stellt sich das Problem völlig anders. Und es ist menschenverachtend, nämlich: die Muslime in ihrem wie bei jeder Kultur: religiös motivierten Kulturwillen verachtend, das NICHT so zu sehen.  




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