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Dienstag, 5. Mai 2015

Versuch über den Künstler

Künstler zu sein verlangt ab einem bestimmten Punkt eine Entscheidung. Aber das ist keine Entscheidung zu einem Lebensbild, sondern es ist die letzthinnige Konsequenz aus der Selbsterkenntnis, zu "nichts anderem gut zu sein". Nichts sonst zu können - als sich in einem bestimmten Material zu verwirklichen, man selbst zu werden. Das zu entdecken, kann oft sehr sehr lange dauern, ja ist gerade dort am schwersten, wo die Neigung, das "Talent" (mit aller Vorsicht hier verwendet), vielfältig ist. Am schlimmsten also, wenn der Künstler in der Lage ist, die Wirklichkeiten des Alltags so gut und weitreichend zu erfassen, daß er sie "als Bürger" (im Zweckgefüge des Alltags) perfekt nachzustellen vermag.

Weil man entdeckt, daß dieses Medium - ob Sprache, Architektur, Musik, Bild, es ist alles im Grunde gleich, hat nur je andere materialbedingte Gesetze und Ansatzpunkte - der Ort ist, auf den sich eines Persönlichkeitswerdung beschränkt. "Mehr kann man nicht." Als Sprachgefüge zu "sein", als Bild/Form zu sein, etc.

Nichts Dümmeres also, als von einem Künstler, zu dem sich in der Menschheit ausgefaltet zu haben eine Folge ihrer immer weitergehenderen Entwicklung als Ausfaltung zum Spezifischeren, Vielfältigeren, "Arbeitsteiligeren" (auf eine Weise ist also sehr wohl die Industrialisierung eine positive Entwicklung der Weltbereicherung) ist, nichts Dümmeres also, als von jemandem, der in seinem Material wie im güldenen Käfig "gefangen" ist, Tat auf anderen, allgemeineren, undifferenzierteren Feldern zu verlangen. Vom Künstler also zu verlangen, er müsse auch Familienvater sein können, wie "jeder andere", Gemeindebürger, Verantwortungsträger egal welcher Art. 

Er mag sogar die Rollenbücher, die Situationen besser verstehen, als die "wirklichen" Gemeindebürger und Verantwortungsträger, aber er wird nie dasselbe sein können. (Insofern kann er für bürgerliche Gremien große Bereicherung sein!) Aus demselben Grund täuscht sich ja der Künstler oft genug selber über seine "Fähigkeit", denn er kann "alles" nachbilden. Deshalb kann ein Künstler (zumal, wenn er im Wort steht, also der Sprache als geistigen Raum auch der Gemeindebürger, in diesem Fall) viel besser wissen, und er tut es fast immer auch, so er ein Künstler ist, wo die Wahrheit in einem "alltäglichen" Fall liegt. Weil er alles ins Wahre hebt, über den Einzelfall also hinaus. Er wird aber Schwierigkeit haben, sie zu "leben".

Seine einzige Verantwortung liegt in der Vervollkommnung seines Ausdrucks, seiner Selbstwirklichung in der Transzendierung auf ein Material hin.  DORT liegt dann sogar seine Heiligkeit - als vollkommener Maler, Dichter, Schauspieler, was auch immer. Diese materialimmanenten Wege unterscheiden sich in nichts vom Weg des Heiligen! Sie verlangen dieselben Schritte, Akte und Läuterungen. Ja, sind noch schwieriger, noch höher einzustufen, tatsächlich, weil ihnen jede Einbettung in die zumindest irdisch oft so angenehmen Befriedigungen des Alltäglichen fehlen.

Und es unterscheidet sich in nichts (!) vom Weg des Alltagsbürgers. Denn dem ist sein weniger ausdifferenzierter Alltag genau dasselbe: Jenes Material, in dem er sich wirklicht. Es ist nur (vielleicht kann man es zur Illustration so sagen:) weniger ausdifferenziert.

Deshalb sagt Goethe mit vollem Recht, daß der Künstler in nichts weniger normal ist, als der Bürger um die Ecke, der Backsemmeln verkauft. Er hat nur ein anderes Material. Wäre das nicht so, könnte er überhaupt nie verstanden werden, und hätte er nie etwas zu sagen. Denn was er zu sagen hat, wird in seinem Material nur besser explizit. Und er hat der Mitwelt deshalb etwas zu sagen, und zwar: immer etwas zu sagen. Nicht, weil sich sein Seelenleben von dem des Normalbürgers unterscheidet. Sondern weil er es zu höherer Differenziertheit führen mußte.

Das ist in einer Zeit, die wie heute drauf und dran ist, jeden Sinn für das Heilige zu verlieren, ganz in Konventionen zu versinken, die sich nur aus der Vergangenheit, aus vergangenen Definitionen, Begriffen nähren kann, ganz besonders schwer. Und führt zu der bekannten häretischen Auffassung, daß entweder "alles" Kunst sei (dann ist nämlich nichts Kunst), oder daß der Künstler gar nicht zu verstehen sei, nur er "Kunst" machen könne, und je unverständlicher sie sei, desto mehr sei sie Kunst. Von Künstlerseite: daß es keine innere Bildung bräuchte, um seine Tätigkeit zur Kunst zu erheben. Gerade heute, nach einer so langen Tradition der Differenzierung und Begriffsfindung, ist das sogar die schwerste Tätigkeit des Künstlers: sich diese Begriffe erstens anzueignen, als ersten Schritt, um sie im zweiten tatsächlich mit neuem, ursprünglichem Leben füllen zu können. 

(Der Weg kann also nicht sein, jede tradierte Form zu Beginn gleich abzustreifen, sondern muß immer sein, die tradierte Form zu beherrschen, um sich dann aus dem toten Korsett mehr und mehr zu den Quellen zu bewegen, die dann in die Zeit hinein neue Gestalten annehmen können, ja müssen.)

In gewisser Hinsicht kann also tatsächlich jeder Künstler werden, und es ist ein Werden: Wenn das Material seiner Tätigkeit beginnt, ihn zu bestimmen, seine ganze Welt zu werden. Nicht als Besessenheit! Nicht als pseudologisches Selbstentfremden (wo das Denken zur Technik der Wortstellung gefriert), in dem technische Prozesse jeden Vernunftprozeß überlagern! Sondern als Liebe und immer weitergehende Totalhingabe ans Material. Sodaß sich die Wirklichkeit, die unsichtbare Wirklichkeit der Welt, immer mehr in ihm abbildet, er zu ihr wird. 

Und - so seltsam es klingen mag! - die Wirklichkeit eines Stuhles ist nicht unterschieden von der Wirklichkeit eines Gemäldes. Auch im Stuhl kann sich (mit der Zeit, mit der Beherrschung des involvierten Materials, das im Künstler, im Stuhlbauer zu leben beginnt) eine weit höhere Wirklichkeit ausdrücken. Gott bemißt nicht die Quantität, er bemißt die Qualität: als Fleischwerdung einer Wirklichkeit, die erst dadurch wirklich wird, und sich zum Chor der Schöpfung fügt.





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