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Freitag, 16. Oktober 2015

Erst konkrete Identität schafft Talent

Jede gesellschaftliche Einrichtung - und erst hier kann man von Kultur sprechen - ist die Gestaltrichtung einer Beziehung. Je differenzierter eine Kultur wurde, je höher entwickelt sie also ist, desto feiner ist dieses Geflecht von (formalisierten) Beziehungen.  Das sind sie, die Masken, die Identitäten. Sie sind es, die das Sosein des Einzelnen bestimmen, und zwar in der Verantwortung dieser Maske gegenüber. Verantwortung bestimmt also das Maß der Durchwirkung des Alltäglichen "mit Kultur", in Kultur hinein, nur in Verbindlichkeit kann also Kultur überhaupt bestehen. Sie ist nicht der Verfügbarkeit des Einzelnen ausgeliefert, ist aber auf die Erfüllung durch den Einzelnen angewiesen. Eine Kultur ohne Einzelne, ohne Erfüllung durch Menschen, gibt es nicht.

Aus diesen formalisierten Beziehungen (deren erste und grundlegendste die der mütterlichen Umgebung ist, und das ist die Familie) heraus ergeben sich somit auch die Aufgaben. Als das, was der Einzelne am anderen, an der sozialen Umgebung, an der Umgebung überhaupt (also auch an Sachen) zu vollziehen hat.

Es ist also diese Institutionalisierung, die der konkreten Gestalt, die der Einzelne zu erfüllen hat (als Maske), auf die hin er sich zu überschreiten hat (weil er nur so sein Ich zu besitzen vermag, nur so kann es sich ihm als Objekt gegenüberstellen, nur so kann er es durchdringen und sich anverwandeln) ihre konkreten Inhalte gibt. IN IHNEN wirkt er mit dem, was er vermag -  mit seinen Talenten.

Nicht so also ist es, wie in Anknüpfung an die Reflexivität Rousseaus* in völliger Pervertierung des Wesens des Menschen heute bereits allgemein geglaubt wird, daß es die Talente seien, die dem Einzelnen vorgeben, was er zu tun, was er zu erfüllen hat. Sondern es ist seine formalisierte Beziehung - es ist die Identität als Definition der Beziehung, der Pflichten und Rechte der jeweiligen Mitwelt gegenüber. Das Gefüge einer Kultur, einer Gesellschaft, eines Staates, eines Gemeindeverbandes, einer Familie, wird also nicht durch "Talente" posthoc angepaßt oder definiert. Es ist umgekehrt. 

Talent ohne Identität ist leer, es "für sich" näher definieren zu wollen in Wahrheit lächerliches Rätselraten mit Figuren aus dem Reich der Ordnung, meist getrieben von dem Ehrgeiz (der Unzufriedenheit mit dem Ort, an dem man steht), in der Hierarchie ganz oben zu landen. Eine Ordnung der Menschen "auf Talenten" aufbauen zu wollen ist der Versuch, im Treibsand Räume abzustecken. Erst auf der Basis einer festen, von allen respektierten gesellschaftlichen Ordnung kann dann auch individualisierte Anpassung oder gar Erweiterung stattfinden - so wie der Förster, der auch Zither spielt, der Bäcker, der auf der dörflichen Volksbühne überzeugend den Harlekin gibt. Kein Mensch ist monistisch, jeder mehr oder weniger vielfältig. Aber nicht alles wäre eine Figur, nicht alles trüge eine Identität. (Was es zwar gibt, aber nur in Ausnahmefällen, und die müssen aus ihrer Natur heraus erkämpft werden.) Es ist das Stück, das die Rolle vorgibt, die ein Spieler dann so oder so (individuell) ausfüllt, indem er die funktionalen Vorgaben der Figur (die Aufgabe, die jede Rolle am anderen hat) erfüllt. Meinetwegen - als gelangweilter König, als feuriger Kammerdiener, als zumpfiger Postbote.

Diese Positionierungen, diese Institutionalisierungen sind dann auch die "Talente", von der die Bibel spricht. Denn sie zum Leuchten zu bringen ist mehr als technische Funktionserfüllung. Der Volksmund kennt es ja. Wenn er sagt: "Das ist so ein richtiger Lehrer, mit Leib und Seele." Daß dieser Stand, diese Identität auch mit familiären Prägungen (weil Vererbungen hier, prägendem sozialem Milieu dort) zu tun hat liegt auf der Hand. Es ist aber immer das Amt, das den Minister macht, keine "Leistung", die das Amt schüfe. (Selbst wenn man das frei zu beurteilen meint, zieht man ja in Wahrheit das Amt als Kriterium des Urteils heran.)

Nicht weniger gilt dies von der Ehe. Auch sie ist eine institutionalisierte Beziehung, diesmal der Geschlechter, die erst in diesem Miteinander jeweils - in Selbstüberschreitung - sich selbst aus der Hand des anderen empfangen. So wird der Mensch also ganz, und er selbst: Aus der in der Ehe institutionalisierten Beziehung von Mann und Frau zueinander. Die wie jede Beziehung (!) hierarchisch gegliedert ist, um Einheit zu ermöglichen. Nicht also die "Liebe" gründet die Ehe - die Ehe gründet die Liebe, die nur aus der Selbstüberschreitung erwächst weil zu sich selbst wird.**

Macht man die Ämter beliebig, macht man ihre Erfüllungskriterien zur posthoc abzulesenden Sache von "Talent", löscht man es aus. Nicht mehr, nicht weniger. Und stürzt somit die Menschen in Identitätslosigkeit.



*Robert Spaemann spricht nicht zufällig bei Rousseau vom "Prototyp des heutigen Menschen". So gut wie alles, was heute landläufige Auffassung im Westen ist, ist wie ein Abguß der Ansichten des Franzosen. In Rousseau ist die Moderne erstmals wirklich kristallisiert.

**Im Gegensatz zu heute so weit verbreiteten Meinungen ist also das freie Zusammenleben eines Paares nicht der "Naturzustand", sondern umgekehrt: die Ehe ist das Natürliche, die Nicht-Ehe das Unnatürliche, einer kulturellen Stimmung Entsprungene.


*161015*