Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 11. Oktober 2015

Selbstwerden nur durch Für-Sein

Wer einen Menschen liebt, zwingt nicht, schreibt Karl-Heinz Menke in "Stellvertretung", sondern hofft. Er verhindert nicht die Schuld des anderen, aber er trägt die Folgen dessen Tuns, er tritt an seine Stelle vor und damit in Gott. Nicht als Ersatz! Sondern er erleidet die "Andersheit des anderen". So wird die Liebe jene Macht, sagt Joseph Ratzinger einmal dazu, die Gott in der Welt hat. Beten heißt: sich auf die Seite dieser Kausalität stellen, der Kausalität der Freiheit gegen die Macht der Notwendigkeit, wie sie die Sünde zur Folge hat.

So wird die Stellvertretung zum Kern des Menschseins überhaupt. Das ist keine "frömmelnde" Einsicht und Aussage, sondern ein und dieselbe Wahrheit für jedes natürliche Menschsein gleichermaßen - hier gibt es keinen Unterschied. Aber es gibt nur einen Weg der Erfüllung dieser natürlichen Wesensdisposition - und die ist in der Stellvertretung Gottes in der Person Christi für den Menschen erfüllt.

Menschsein heißt, FÜR SEIN, und IN diesem FÜR SEIN wird der Mensch zu sich selbst. Hier ist sich Einheit und Unterschiedenheit eins, denn das Sein des Menschen ist zutiefst verschränkt mit dem Sein der Menschheit - und damit des Nächsten - selbst. Was einer tut, betrifft alle. Was der andere tut, betrifft mich. Erst wenn ich diese Bereitschaft zur Stellvertretung für den anderen aufbringe, wird aber diese menschliche Gemeinschaft (in allen sogar noch differenzierbaren Ebenen und Konkretionen) in das Gott-Mensch-Sein Jesu hineingenommen, und damit für die Gnade geöffnet. Ein sogar im Natürlichen - als Analogie, als Ähnlichkeit der tiefsten Vorgänge, wie sie in Gottes Wirklichkeit hineinreichen, gewissermaßen als "Matrix" menschlichen Geschehens - auf vielfältigste Weise beobachtbarer Vorgang von menschlichen Gemeinschaften.

Aber nicht so darf es gesehen werden, als wäre Gott ein Teil der Kategorien der menschlichen Welt.  Wo ein Mensch Gott nicht als von sich verschieden anerkennt, schreibt dazu einmal C. S. Lewis, kann er gar nicht behaupten, Religion zu haben. Gott kann niemals eine Kategorie menschlichen Daseins sein, er ist nicht im selben Sinn "der andere", wie der Nächste oder ein Gegenstand. So gesehen würde er zum Götzen. Sein Dasein ist dem des Menschen nicht "parallel". Denn Gott ist der Grund meines Seins, immer sowohl in uns wie gegenüber und über uns. Unsere Wirklichkeit, schreibt Lewis, ist so viel von der Seinen, als er von Augenblick zu Augenblick in uns projiziert. Der Akt dieses Einlassens ist das Gebet.

Beten ist aber kein Vorgang vor Gott, der ihm etwas sagt, was er noch nicht wüßte, oder ihn zu etwas bewegen könnte, was er nicht von sich aus täte. Es ist ein sich jeder menschlichen Kontrolle entziehendes Hineinnehmenlassen in seine Liebe, die durch uns in der Selbsthingabe des FÜR SEIN gnaden- und also geschenkhaft, unsteuerbar durch uns, durch "unsere Poren" tritt.

Gebet und Stellvertretung sind deshalb einerseits eins. Wo sich die direkte Proportionalität beider Wirklichkeiten aber zugunsten eines dieser Pole verschoben hat, kam es immer zu einer veräußerlichten oder verinnerlichten Frömmigkeit, zu heilsindividualistischer Ausklammerung oder verdienstorientierter Instrumentalisierung des Nächsten. 

Deshalb ist auch der Weg des Armen für die Menschheit, die Kirche (als ecclesia, als Ganzheit des in Gott eingeborgenen Menschseins), die Schöpfung, nicht, eine Beseitigung der Armut zu verlangen, so zynisch das für manche klingen mag, sondern ein Durchwirken der Welt mit Gottes Gnade liegt im Begreifen, daß das Leid - und Stellvertretung ist einsichtig genug immer Leid - zugleich das Einfallstor für die Heilsvollendung der Kirche´als und in der Welt ist.

Und das meinte der Hl. Laurentius, als man ihn sogar auf den glühenden Rost spannte, weil man diese "Schätze" der Kirche von ihm wollte. Er nämlich hatte sie vorgestellt - indem er die Armen Roms sammelte und vor die Bedränger stellte: "Das sind unsere Schätze!" Denn - das sind sie. Das ist das Mysterium der Gnade vom "letzten Platz", das Mysterium des reinen Für-Seins im Verzicht sich sich selbst geben und bewahren zu wollen, wo die Letzten die Ersten sein werden.





***