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Samstag, 14. November 2015

Der fehlende Puzzlestein

Vermutlich muß man gehörig umdenken, auch der VdZ, der da einiges zu wenig mitbedacht hatte, wenn es um die Einschätzung der Lage im Nahen Osten bzw. arabisch-muslimischen Raum geht. Jean Raspail, algerienerfahrener Franzose, weist in "Das Heerlager der Heiligen" darauf hin, und der Israeli Shlomo Avineri führt es in einem Presse-Gespräch recht einleuchtend aus: Wir haben es hier zu einem guten Teil mit Gebilden zu tun, die gar nie Staaten im eigentlichen Sinne waren, sondern die diese Bedingung nur formal erfüllten. Deshalb blieb auch deren Regierung nie etwas anderes übrig, als mit eiserner Hand zusammenzuhalten, was nie zusammenzuhalten war. 

Avineri führt im besonderen Libyen, Syrien und den Irak an. Hier haben die Wetmächte (Sykes-Pikot-Abkommen von 1917) künstliche Staaten geschaffen, ohne Rücksicht auf völkische Elemente zu nehmen, die gar nie zusammenzuspannen waren. Diesen Gebilden fehlte nun aber das, was einen Staat überhaupt erst konstituiert - der einheitliche Wille eines Volkes, sich im Staat eine höhere Potenz zu verleihen. Einzig Jordanien und Arabien hätten, so der israelische Nahostexperte, jene innere Legitimation, die vielen übrigen Staaten fehlen - es sind Monarchien, die auf religiöser Seite eine wichtige Funktion für den gesamten islamischen Religionsraum erfüllen, weil sie die heiligsten Stätten des Islam beinhalten und schützen, oder wie im Fall Jordaniens überhaupt religiös verankert sind: der jordanische König gilt als Abkömmling des Propheten.

Während Ägypten sowohl völkisch wie durch die lange Tradition die Voraussetzungen für einen Staat immer hatte und nie verlor. Wenn ein Staat aber im Grunde innerlich unumstitten ist, verträgt er auch einen Pluralismus der Religionen und politischen Strömungen, wie sie heute in Ägypten herrschen. Weshalb der Israeli meint, daß gute Voraussetzungen herrschten, daß das momentane Militärregime mittelfristig wieder milder würde.

Aber was wir derzeit erleben sei ein Zusammenbruch von säkulären Gebilden, die gar nie lebensfähig, die nur Wunschdenken europäischer Reißbrettpolitiker waren, die vorwiegend europäische Interessen im Blickfeld hatten. Defacto sei ja in Syrien bereits ein kurdischer Staat entstanden, und weitere würden entlang der Bruchlinien der Religionen und Völker folgen. Eine raumübergreifende Lösung scheint außer jeder Reichweite, und für den vorderasiatischen Teil könnte wahrscheinlich bestenfalls eine religiös-verquickte Lösung - ein wiedererstehendes Kalifat - wieder Ordnung schaffen. Aus dieser Sicht hat sich die Türkei durch die Jungtürken-Revolution von 1905 den Weg zu einer Ordnungsmacht definitiv selbst verbaut, denn als säkulärer Staat fehlt ihr die Legitimation, die alle Araber anerkennen könnten. Es könnte also im Halbscherz, den der VdZ an dieser Stelle bereits einmal durchgespielt hätte, tatsächlich der einzige mögliche Ausgangspunkt ... Damaskus liegen.

Man müßte Raspails Anmerkung natürlich weiter ausdehnen, denn augenblicklich würden uns Europäern auch so manche Probleme Afrikas begreifbarer. Nur, weil wir es nach europäischem Begriffsgebrauch gewöhnt sind, deklarierte Staaten - Namen, die oft ja nur europäischem Zynismus oder noch mehr: der Naivität entsprungen sind - als solche zu sehen, heißt das noch lange nicht, daß es je welche waren. Eigentlich geht Europa damit der unseligen Vertragstheorie der Aufklärung auf den Leim. Denn die wird auch damit widerlegt. Wir übersehen damit aber, daß viele sogenannte Staaten der Welt um eine solche Staatswerdung überhaupt erst ringen. So manche Gebilde also voreilig "wie einen der unseren Staaten" zu behandeln, meist noch durch europäisch-amerikanische Interessen motiviert, verhindert damit sogar den Frieden in diesen Gebieten. Nicht nur die USA, sondern auch die europäischen Staaten haben deshalb schon so manche Katastrophe angerichtet.

So müßte man also wohl die Türkei sehen, die seit Atatürk eine ähnliche Säkulargeschichte hat, die ihre erste Entladung im Armenozid hatte und mit seinen Kurden bis heute nicht zurecht kommt. Und in jedem Fall tut Avineri es für die Ukraine. Zu der er sinngemäß dasselbe sagt: Hier hat man nach 1989 versucht, Völker und Bevölkerungen künstlich zusammenzuspannen, denen jede Voraussetzung für einen Staat fehlte, wie es die heutige Ukraine sein sollte. Was zuvor noch die Sowjetunion zusammengehalten hatte, zerfiel unter dieser Anforderung. Damit entstand ein Machtvakuum, so wie das in vielen arabischen Staatsgebilden der Fall ist. Doch gibt es kein solches Vakuum, es wird sofort durch andere Mächte gefüllt.

Europa sei dabei recht hilflos. Denn die political correctness, sagt der Professor aus Tel Aviv, verhindert ein rationales Durchleuchten der Probleme. Und allemal dürfte er recht haben wenn er sagt, daß es naiv ist  zu meinen, daß Prozesse, die in Europa viele Jahrhunderte gebraucht haben, dort in Jahrzehnten ablaufen könnten. Nur, so möchte man hinzufügen, damit ein verlogener Friede - als Vermeidung jeden Krieges mißdeutet - herrscht, der das dekadente westliche Gemüt weiter wegdämmern läßt.




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