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Mittwoch, 10. Februar 2016

Eine Aschermittwochgeschichte

Ganz von der Hand zu weisen ist der verschiedentlich erhobene Vorwurf nicht, daß Zuwanderer besser behandelt werden als angestammte Bewohner unserer Länder. Der VdZ kennt einen Fall, der das illustriert. Er liegt etwa zehn Jahre zurück.

Ein Mann, Wiener ursprünglich tschechischer Abstammung, rutschte durch verschiedene Lebenskatastrophen (Arbeitslosigkeit als Metallfacharbeiter, Scheidung mit drei zurückgelassenen Kindern, woraus beträchtliche Unterhaltspflichten erwuchsen, samt Entfernung aus der nunmehr der Frau behörigen Wohnung) bis in die Obdachlosigkeit ab. In einem Wiener Heim untergebracht, wo ihm zwar ein Bett zur Verfügung gestellt wurde (gegen Bezahlung übrigens, auch wenn der Betrag nicht hoch war, und hätte er nicht bezahlt, wäre er wieder expediert worden), wo er aber selbstverständlich selbst für die Verpflegung selbst zu sorgen hatte, hatte er vor allem in den ersten Wochen nicht einmal genug Geld, um Fahrscheine für die Wiener Verkehrsbetriebe zu kaufen. Also fuhr er schwarz. Und er fuhr viel, weil er alles tat, um sich irgendwie wieder auf die Füße zu stellen. Tatsache ist, daß der mehrmals von Kontrolleuren erwischt wurde, den Strafbetrag nicht erlegen konnte, und fortan mit nächsten Gerichtsklagen der Behörden über natgürlich ständig anwachsende Beträge zu tun hatte. Einmal habe ihn sogar die Polizei besuchen wollen, er sei aber nicht da gewesen, um ihn ersatzweise ins Gefängnis zu verbringen.

In Wien sollen nun Asylwerber/Flüchtlinge/Immigranten kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen können. Und zwar für die gesamte Dauer ihres Asylantrags, wobei sie von Anfang an in den Genuß des arbeitslosen Grundeinkommens gelangen, das man in Österreich "Mindestsicherung" nennt. Das gab es übrigens zur Zeit der erzählten Umbrüche für unseren Mann nicht. Denn für den gab es nicht einmal Sozialhilfe, denn Alimente werden vom Sozialamt ncith als einkommensmindernd angesehen. Kinder erhöhen hingegen zweifellos den Betrag der öffentlichen Unterstützung für Flüchtlinge. Wie aus deutschen Regionalmedien zu erfahren ist, belaufen sich die Kosten für die bloße Unterbringung und Betreuung auf noch einmal so hohe Beträge, auf die sich schon die Tag-, Kleidungs- und sonstigen Gelder und Verpflegungen summieren, die den Flüchtlingen sowieso zur Verfügung stehen. 

Endlich fand dieser Mann (seine Eltern sind den Folgen des Prager Frühlings 1968 entflohen und mußten hier völlig bei Null anfangen) eine Arbeit, und suchte Hals über Kopf eine Wohnung. Nicht teuer, aber doch mit monatlichen beträchtlichen Kosten. Berücksichtigt man nämlich, daß die Alimenteforderungen gerichtlich betrieben wurden, weil er sie in ihrer ganzen höhe nicht begleichen konnte. also wurde er (wie das in Österreich bei Alimenten der Fall ist) sogar unter das offizielle Existenzminimum gepfändet, und zwar um 25 %, und das ist eigentlich ein Akt der Huld, denn die Gesetze ermöglichen eine vollständige Einkommenspfändung. 

Also verblieben unserem Mann nicht genug Gelder, um sich am Leben zu erhalten, und vor allem um einmal die durch die Arbeit erhöhten Lebensführungskosten (Kantinenessen, Kleidung, Schuhe, Fahrkarten), und anderseits die Kosten für seine Einzimmerwohnung zu stellen. Die so klein war, daß er damit auch den Kontakt zu seinen (damals noch kleinen) Kindern noch schwieriger halten konnte, denen er nicht einmal eine Schlafstelle bieten konnte, sonst ohnehin nichts, wenn sie ihn einmal besuchen kamen. Die sich von seiner Armut (die sie natürlich nicht verstehen konnten) abgestoßen fühlten, was er im übrigen verstehe. Die Liebe zum Vater habe etwas Abstraktes, Geistiges, sie ist für Kinder deshalb noch gar nicht wirklich, für sie ist nur wirklich, was sie fühlen und erleben können.

Sein weiteres Schicksal war logisch: Er geriet in Rückstände. Bei Mieten (die er noch bevorrangt behandelte, so gut es eben ging), bei Heizung, bei Strom. Bis er auch diese Kleinstwohnung nicht mehr halten konnte, delogiert wurde, und fortan bei Freunden lebte. Das tut er auch bis heute. Kontakt zu seinen Kinder habe er aber nicht mehr.

Bis heute auch wird er für die in dieser Zeit aufgelaufenen Wohnungsschulden gepfändet bzw. liegen betriebene Gerichtsklagen vor. Öffentliche Hilfe, um die er verschiedentlich einkam, erhielt er - bis auf einen einmaligen Heizkostenzuschuß in Höhe von 50 Euro, den er mit mehrmaligen schriftlichen Ansuchen und schließlich persönlichem Bittbesuch am Amt als Gnadenakt dann doch zugesprochen bekam - nie wirklich, das heißt: in einzelnen kleineren und jeweils regelrecht zu erbettelnden Zuwendungen zwar schon, dann und wann, aber nie in nachhaltiger Weise. Ohne die Hilfe der wenigen noch verbliebenen Freunde er nicht einmal genug zu essen gehabt, denn Küchensuppen, das Milieu der Obdachlosen, wollte er nach den gemachten Erfahrungen unbedingt vermeiden. Es hätte ihm im Beruf, aber auch privat schaden können, wäre so etwas von ihm bekannt geworden.

Der VdZ traf ihn erst kürzlich wieder. So, wie man sich eben seit Jahren zwei- oder dreimal im Jahr verabredete, wo der VdZ ihn zum Essen einlud und man Neuigkeiten austauschte. Er ist ein geduldiger, ruhiger, fast scheuer und keineswegs fremdenfeindlich eingestellter Mann, ist er ja selbst Zuwanderer in zweiter Generation, und Österreich, wie er immer wieder fast devot betont, sehr dankbar. Aber er meine schon, meinte er nun, daß er es seltsam finde, daß den derzeitigen Zuwanderern (bei denen er sich die Frage stelle, ob sie wirklich alle Flüchtlinge seien, denn sein persönlicher Augenschein sei anders) alle diese elementaren Sorgen, die ihn so viel Kraft und Nervenkraft gekostet hatten und nach wie vor kosteten, sodaß er mittlerweile dauerhaft krank ist (obwohl er nach wie vor arbeitet; mittlerweile hat er auch sogar Anspruch auf eine kleine Pension), mit einem Handstreich so leicht und so großzügig abnimmt. Was bei ihm und bei vielen, die er in ähnlicher Lage sehe - nie geschah. Das sehe er als Ungerechtigkeit. Und er verstehe, wenn das von manchen moniert werde. 

Zwar sei er nicht der Auffassung, daß Obdachlosigkeit an sich ein Schicksal sei dem man nur mit Mitleid begegnen dürfe, denn nur wenige - seiner Einschätzung nach keine 10 Prozent - wollten sich daraus wirklich wieder befreien. Dem überwiegenden Teil der Obdachlosen sei es nämlich eine Lebensform der Entledigung von jeder Verantwortung, aber das solle jeder halten wie er wolle. 

Aber gleich ihm sei es nur wenigen gelungen, sich daraus wieder zu erheben. Das habe er der Zähigkeit seiner böhmischen Eltern zu verdanken, die er offenbar geerbt habe. Gerade diese aber, die wieder nach einem würdigen Leben strebten, hätten es oft sogar am schwersten. Psychologisch, aber auch ganz real. Dabei betone er, daß er es nicht für richtig hielte, Menschen in so schwierigen Lagen quasi zu Rechtsträgern auf Hilfe zu machen. Vielleicht hätten ander eine Pflicht zu helfen, aber die sei  moralisch, nicht einklagbares Recht. 

Weshalb ihn Dinge wie die angekündigte Gratisfahrt für Wien aufregten. Denn er habe gerade unter diesem Problem sehr gelitten. Aber es werde seinen Sinn gehabt haben, bei jeder Fahrt zu Ämtern, zum Gericht, zu einem immer selteneren Treffen mit seinen Kindern, oder zu seinen Arbeitsstellen darüber reflektieren zu müssen. 

Er verstehe einfach manches nicht. Auch davon, was heute als "Gebot der Menschenwürdigkeit" proklamiert werde. Denn es gibt Situationen, in denen der Mensch seine Würde eben verliert. Aber er hat sie erst verloren, wenn er sie aufgibt. Weil er sie sich dann selbst - selbst! - wieder herstellen muß. Kein noch so großes Leid kann einem die menschliche Würde wirklich nehmen. Tragisch wird es erst dann, wenn man sie aufgibt.

Demzufolge sehe er es als kontraproduktiv, an Asylwerber einfach so und als Anspruch gar Geld auszuhändigen, wie es geschehe und unlängst von jemandem im Fernsehen verteidigt wurde. Zu leicht gibt man dann seine Würde auf, nur aus dem Willen die innere Würde auch nach zum Ausdruck zu bringen kann doch die Kraft kommen, etwas aufzubauen, förmlich aus dem Nichts zu schaffen. Und das ist doch angeblich das, was Zuwanderer wollten?

Dabei wolle er seine Situation schon gar nicht mit der seiner Eltern vergleichen, immerhin habe sein Vater als Bauingenieur damals rasch (freilich: niedrigere) Arbeit gefunden, von der es auch genug gab. Und der habe es zu seinem Lebensende, immer unterstützt von seiner sparsamen, klugen und in Haushaltsdingen außergewöhnlichen Frau - sogar noch zu bescheidenem Wohlstand gebracht.Aber gerade von ihr habe er gelernt, daß man sich zur Würde vor allem einmal selbst erheben muß, um sie wiederherzustellen. Und um sie wiederherzustellen - hätten seine Eltern so hart gearbeitet.

Aber er selber habe jahrelang mit dem seiner Lage gemäßen Gebot gelebt (das ihm schließlich sogar zur Haltung wurde), daß er einfach nichts - buchstäblich: nichts - kaufen konnte, was über den allernotwendigsten Lebensbedarf hinausging. Sich etwa dazu erzogen, an Schaufenstern vorbeizugehen, ohne hineinzusehen, seine Kleidung aus Geschenken oder Caritas-Verkaufshöfen zu beziehen. Daran habe sich für ihn bis heute nicht viel geändert, und er denke dabei oft an seine Mutter, die ihre Kleider selbst aus Flohmarktvorhängen selbst genäht habe und trotzdem immer gepflegt, ja adrett aussah. 

(Der VdZ kennt ihr Aussehen von berührenden alten Photoaufnahmen. Er hat auch aus anderer Erfahrung den Eindruck, daß wir der Bescheidenheit, dem ungeheuren Fleiß, der unbeugsamen Tatkraft, der Hingabe mit der sie ihrer beruflichen Arbeit nachgingen, diesen damaligen Zuwanderergenerationen (grosso modo) "nach dem Krieg", von denen Deutschland nach 1945 förmlich überging und die keineswegs "freundlich" aufgenommen wurden, viel von unserem heutigen Wohlstand verdanken. Sie sind mit den Zuwanderern heute nicht im entferntesten zu vergleichen, nicht einmal mit dem Umstand, daß diese damals nämlich buchstäblich nichts besaßen. Auch über kein Telephon, und oft nicht einmal über Schuhe verfügten. Der VdZ kann sich selber gar erinnern, daß Kinder sogar noch in den frühen 1960er Jahren auch bei uns sommers meist barfuß liefen, um die wenigen Paar Schuh zu schonen, die man besaß.)

Er wolle damit nicht sagen, daß er sein Schicksal prinzipiell als ungercht empfinde. Er meine sogar, daß diese Logik seine Richtigkeit habe, unter der er dann litt. Aber er habe in der derzeitigen Lage den Eindruck, daß Migranten vieles nicht zugemutet werde, was Österreichern aber gar nicht so selten alltäglich ist. Und das sei nicht gut - und zwar für die Migranten selber. Die so gar nie einen Begriff über die Logiken, Zwänge und Notwendigkeiten in unseren Ländern bekämen, ohne die es den Wohlstand, an dem sie partizipieren wollen, aber gar nicht gäbe. Als wollte man diesen Menschen ein Paradies vortäuschen, das man für sie mit hohen Mauern umgebe, durch die keine Belästigung dringe: Die alltägliche Sorge, die jeder Österreich zu bewältigen habe, will er sein Leben fristen. 

Aber sie ist Bedingung für das, was er in seinem Leben als so entscheidend erkannt habe, und was ihm seine Eltern vorgelebt hatten: Daß es ein Leben in Würde erst gibt, wenn man sich selbst nach dieser Würde ausstreckt. Daß es keine Umstände gibt, die einem die Würde wirklich nehmen können, so schlimm sie auch sein mögen. Weil man es selbst sein muß, der sich für Würde entscheidet.

Das hat er dem VdZ letztens erzählt. Der hat dann - ohne Übertreibung oder hohlem Pathos - mit nahezu heiligem Schauer die Rechnung für beider Essen bezahlt. Noch nie hatte er so viel Respekt vor seinem Freund.

Nachtrag: Das österreichische Bundesland Oberösterreich hat in diesen Wochen in einem ersten Schritt die Mindestsicherung für Asylwerber halbiert. Fortan stehen jedem Asylwerber (es bleibt: ab dem ersten Tag, wo sie um Asyl einkommen) während der Dauer des Asylprüfungsverfahrens nicht mehr 920 Euro, sondern nur noch 460 zu. Es sei bei Menschen, so die Landesregierung, die im Grunde durch öffentliche Einrichtungen rundumversorgt sind, nicht einzusehen. Wer mit diesem Geld seine Existenz nicht bestreiten könne, müsse eben bei Flüchtlingshilfestellen darum bitten.




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