Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 7. Juni 2016

Von der Kunst der Gerechtigkeit im persönlichen Urteil

Man glaubt oft zu rasch, etwas verstanden, begriffen zu haben. Weil es das eine ist, einen Gedankenlauf, eine Logik intellektiv nachzuvollziehen und sogar weiterbauen zu können, weil es das nächste ist, sogar teilhafte Bewegtheitsdynamiken in sich zu beleben, zu erfassen, im Gestalthaften des anderen zu übernehmen gar, indem man ihm noch weiter sogar Teilautorität zuerkennt oder von einer solchen erfaßt wird.

Aber es ist ein anderes, ein völlig anderes, die Gesamtheit eines Menschen zu erfassen, und sich somit von seiner Gesamtdynamik - die ein ganzheitliches Geheimnis ist und immer bleibt - bewegen zu lassen. Erst daraus aber ließe sich jenes "Herz", jenes Zentrum eines Denkens und Wesens eines Menschen erfassen und verstehen, denn es ist das Licht, das allen Teilen ihren Platz in einer Gesamtordnung zuweist. Und dieses erst dann wirkliche Verstehen, das eine Teilhabe an dieser Mitte des anderen ist, aus DER HERAUS erst die Teile, Einzelaussagen, Teillogiken etc. erfaßbar sind (die ohne ihren Platz im Ganzen ja immer falsch weil unvollständig sind) ist wiederum in Wirklichkeit eine Selbstüberschreitung auf eine gewissermaßen formale, gestalthafte Autorität und Person, ist das Einnehmen eines Platzes dieser gegenüber, der einem Aufnehmenden erst gerecht würde, als Hörender, ja eigentlich überhaupt nur im Gehorsam.

Wieviel Fehleinsschätzung, wieviel eigener Irrtum (indem man eigene Auswahl und Ungewichtetheit sogar mit der Gesamtautorität des anderen, zu Hörenden bzw. Gehörten tauft) und wieviel Fehlurteil über diesen anderen folgt aus diesem Fehler. Der so nebenbei auch das gesamte "Bildungswesen" unserer Zeit wie ein alles durchdringender Krebs durchwuchert hat, das einen Hörenden vorsieht, der das Gehörte nur noch auswertet, als bräche er aus einem Steinbruch gerade benötigte Steine heraus.

Letzteres Verhalten - die Steinbruchtaktik, eine Art Eklektizismus - mag da oder dort ihre Berechtigung haben, das sei meinetwegen unbenommen. Aber der Hörende, der Verwender möge sich doch bitte kein Urteil über das Insgesamt zugestehen, aus dem es stammt. Urteil? Ja, denn natürlich muß jeder ein Urteil treffen, denn erst darin vermag er seine Position, seinen Ort zu definieren, soferne dieser noch nicht vorgegeben oder erkannt ist. Etwas, das besonders in einer Zeit, in der gesellschaftliche Ordnungen aufgelöst, jederzeit veränderbar sind, oder Institutionen so flächendeckend von Usurpanten besetzt werden, natürlich besonders notwendig ist. 

Erst so nämlich, in einer Einordnung von Gehörtem wie Hörendem in ein Insgesamt eines Beziehungsfeldes gewissermaßen, kann sich ein Geist überhaupt erst zu seinem Möglichen (und: Ewigen) entfalten. Etwas, das dem, der sich leichthin dem anderen "gleich" dünkt, als Recht, als Anspruch apriori, oder gar aus Verstiegenheit und Selbstüberschätzung, immer verschlossen bleiben muß. Dazu wiederum ist aber eine genaur Prüfung, ein genaues Hören des Vereinzelten erste Voraussetzung, denn im Vereinzelten, je nur Teilhaften steckt immer auch eine Kunde vom Ganzen.

Alles Vereinzelte, dessen Entstehen und Grund oft in vielen sehr spezifischen Bedingtheiten zu suchen ist, ist also ein Weg zur Mitte, und zwar jeweils eben einer der vielen und oft verschlungenen, verschiedenen Ebenen zugehörigen Wege, die letztlich aber in einem Punkt zusammenführen müssen. Mit einer klugen Haltung auch der Dichotomie jedes Menschen gegenüber, der immer zugleich Maske (als aufgabenbestimmender Ort von Antwort) und deren Träger in persönlichen Verfaßtheiten ist. Nur auf letzteren kann sich auch das Gebot einer statthaften Barmherzkigkeit erstrecken, wo jemand Maske (Rolle) und Träger noch nicht in einem Punkt zusammengeführt hat - in der Persönlichkeit.*

Aber es geht um eben diese Mitte des Personseins als Ausweis und Träger seines Platzes in der ewigen Ordnung, seiner Würde. Und um sie zu erfassen (als Ansatz einer Teilhabe in der wahrhaftigen, gerechten Beziehungsweise) muß dann nicht einmal ein quantitativ "alles" vom anderen gekannt werden. Es ist aber eine hohe Kunst, ein Geschenk einer hohen Intuition (die ja auch nicht einfach "vom Himmel fällt"), zu der sich nicht viele verstehen, und zu deren Ausübung und Ausbildung es zum mindesten viel gereifte Erfahrung braucht. Sie erlernen zu wollen fordert deshalb jene Scheu und Vorsicht, wie sie immer mit einer Berührung eines Geheimnisses verbunden ist.

Dann aber ist es sehr wohl möglich, ja sogar notwendig, über die Mitte eines Menschen jenes Urteil zu fällen, das eines Position zu diesem im Rahmen einer Beziehungsdynamik, eines ontischen Beziehungsbildes bestimmt, und eine Einschätzung der Person möglich macht, die sich selbst durch diesem Urteil scheinbar widersprechende, oder gar in täuscherischer Absicht getätigte Äußerungen und Wirkungen dieser Person nicht in ihrer Haltung zu dieser irritieren läßt. Ja, diese Festigkeit ist sogar das entscheidende Momentum dessen, was man Persönlichkeit nennt. Zu der allein zu stehen, an der festzuhalten, auch bei Anfechtung und Irritation und Widerspruch, nicht Merkmal sturer Vernageltheit ist, sondern überhaupt erst Persönlichkeit konstituiert. 

Denn erst hier beginnt das Moment der Verantwortung und der Freiheit. Hier beginnt also der Mensch, die Person. Sie beginnt in der Einsamkeit, sie beginnt im verantworteten Urteil und im Mut zum Gericht.





*Wenn so wie heute so katastrophisch allgemein üblich das Tragen einer Maske, das Besitzen eines Ortes abgelehnt, ja gar verteufelt wird, weil alles widerrufbar, folgenlos, flexibel und relativ sei, kann man deshalb gar nicht mehr von Persönlichkeit und Identität sprechen. Selbst ein Widerruf eines ungerechten Urteils wird erst dort zur Größe und Persönlichkeit, wo der Träger den Bereich des Ortes nicht verläßt, ja den Ort gerade im Widerruf schützt und heiligt, den er sich im persönlichen Fehler eben nicht angeeignet hatte, sodaß sein Irrtum die Maske beschädigt hat.





***