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Sonntag, 17. Juli 2016

Grotesken zum Tag

Die Situation wird immer grotesker. Nach Nizza noch mehr, rufen die Europäer nach einem säkularen Islam, den genau jene Militärs wieder einzurichten versprachen, die nun in der Türkei zu putschen versuchten, um "Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat" wiederherzustellen. Das wiederherzustellen, was eben eine Türkei Atatürks acht Jahrzehnte (mit starker Militärstütze) durchzusetzen versuchte: Eine moderne Türkei europäisch-westlichen Zuschnitts. Und dabei eine "neue Generation" von Türken schuf, die mit der alten, die bei weitem die Mehrheit stellt (denn die bei weitem meisten Türken heißen den islamistischen Reformkurs der AKP mehr als gut) nicht mehr kompatibel ist. Die Türkei ist tatsächlich und weit mehr gespalten, als Europa sich vorstellen kann. 

Während Erdogan also für jenen Islam steht, den Europa verdammt, weil es unter seinem ihm immanenten Terrorimpetus leidet, während Erdogan genau jenen westlich-ausgewaschenen Lebensstil und Staat bekämpft, den Europa als Inbegriff des christlichen Abendlandes sieht, den es zu verteidigen gelte, überbieten sich die Institutionen und Politiker Europas nun darin, eben jenem Erdogan Solidaritätsadressen zu senden, denn er sei ja demokratisch gewählt, der genau diese europäischen "Werte" als Bedrohung und bestenfalls Europa als nützliches Ersatzteil- und begehrenswertes Rohstofflager sieht.*

Jener Erdogan, der seit den letzten Wahlen 2015 ja eindrücklich zeigt, was er von Demokratie und säkularem Staat hält. Und das ist nicht einmal ohne Verständnis, ja nicht einmal ohne Sympathie für Erdogan gesagt (die unter dem Motto steht: Bleib nur dort, mach was Du meinst, dort mag es gut sein, wir wollen deine islamische Gesellschaft aber nicht hier haben). Der VdZ ist also nicht plötzlich zum Verkünder der allseligmachenden Heilsbotschaft der Demokratie geworden. Er muß nur schmunzeln über die Verdrehungen, zu denen die europäische Politik schon gezwungen wird, um eine ihr geistig nicht mehr zu erhellende Situation, in der die "diplomatische Pragmatik" das Gegenteil von dem verlangt, was sie selbst zu vertreten vorgibt, so irgendwie auf einen Zweig zu bringen. Erwartet sie davon Achtung seitens der muslimischen Welt?

Übrigens: Genau so wie Atatürk, kommt Erdogan ... vom verachteten Rand der Gesellschaft. Und er hat sie wie Atatürk von dort her aufgerollt. Wie gesagt - Reformen kommen von den Rändern! Jedes Lebewesen, jeder Organismus lebt nämlich genau in einer polaren Spannung zwischen der äußersten Haut, seiner Grenze, seinem Ort der Berührung mit dem "anderen", jenen Ort der tiefsten Zugehörigkeitssehnsucht, und dem tief innersten Kern als Ausgangspunkt des Selbstseins, das ein "Sein hinaus" ist. Und in dieser Polarität bestimmen sie den Rest des Organismus.**

Noch ein Gedanke: Wäre der Putsch der letzten Tage erfolgreich gewesen, dann würden wohl  manche Bauklötze staunen, wie rasch mitten in Europa ein importierter, fremder Bürgerkrieg aufflammen kann. In dem Erdoganistas im Namen einer "religiös erneuerten Türkei" gegen Atatürkoten im Namen eines säkularen, europäisch-westlichen Staates mit der Waffe in der Hand auf die Straße gehen und sich mitten in Kreuzberg und Bochum-Heiligenschwörde Straßenkämpfe liefern, als hätten sie noch nie etwas von Deutschland gehört.




*Der VdZ geht nicht ganz so verschwenderisch  mit der Diagnose "Narzißmus" bei den gegenwärtigen Zuständen und Politikern um, wie manch andere. Denn er sieht ihn politisch eher als Begleitphänomen.  Aber wer die Erdogan-Biographie von Cigdem Akyol liest und den Narzißmus etwas begriffen hat sieht die Umstände des Aufstiegs Erdogans vom armen Istambuler Gassenjungen zum Ministerpräsidenten und Heilsbringer seines Landes mit anderen Augen. Sieht, daß Narzißmus hier als gesellschaftliche Grundstimmung einer über lange Degenerationsprozesse zusammengebrochenen Kultur (der alten Türkei) zumindest eine enorme Rolle spielt. 

Sodaß Figuren wie Atatürk und nun Erdogan zumindest verständlich werden, denn es konnte kaum anders kommen. Nebenbei: Die Türkei ist Westeuropa nur um einige Schritte voraus. So, wie Atatürk Mussolini und Hitler voraus war, die an ihm viel Maß nahmen. Atatürk hat - wie der Faschismus Westeuropas - die heutigen modernen Gesellschaften als post-kulturelle, positivistische "Konstruktionsbrücken über Kulturwüsten und archälogisch wertvolle Ruinen" nur musterhaft vorgebildet. 

Die gesellschafts- und kulturhistorischen Analysen Erdogans, der hier einen substantielleren, weniger positivistischen, ja man muß es sogar so sagen: weniger faschistischen Gegenentwurf versucht, sind oft ganz beachtlich und oft beachtlich richtig, man sollte ihn und seine AKP da nicht unterschätzen. Und man kann Erdogan nicht ganz absprechen, Elemente eines Staatsmannes zu beweisen. Ganz im Gegensatz zu dem, was sich  meist in Europa als Politiker herumtreibt. 

Auch wenn er vor dem selben Dilemma steht, wie etwa der Versuch des Ständestaates unter Dollfuß, der leider viel zu kurz im Amrt war (weil bei einem versuchten Nazi-Putsch ermordet wurde) und in Schuschnigg einen der Sache überhaupt nicht mehr gewachsenen Nachfolger hatte, der auch noch die letzten Chancen verspielte. Freilich mit einem entscheidenden Unterschied zu Erdogan: Die persönliche Prägung durch das Christentum ist ontologisch völlig anderer Natur als die durch den Islam, der sich an die Zweitwirklichkeit, die Pseudologie, also die voluntaristischen Persönlichkeitselemente wendet. (Insofern hat er viel Ähnlichkeit mit dem Protestantismus.)

Man müßte bei solchen Versuchen aber den Teufel mit Beelzebub austreiben. Das kann nicht funktionieren. Kulturzustände wie vor 1900 sind nicht mehr (organisch) restaurierbar, das ist das Problem. Auch in der Türkei. Bestenfalls wären sie eine gewisse Orientierung für eine Neuorganisation einer Gesellschaft nach einem wirklichen, totalen Zusammenbruch. Vielleicht.

**Das macht gewiß begreiflicher, warum Carl Schmitt den Staat als den bestimmte, der über den "Ausnahmezustand" Macht hat. Einerseits ist der Staat nämlich fast "unsichtbar" zuinnerst eines Volkes, beschreibbar, aber nicht "machbar", anderseits wird er immer und nur dort explizit, wo das Ganze gefährdet ist. Aber im Alltäglichen leben, funktionieren muß ein Organismus gewissermaßen "selbstverständlich" und "unbewußt". Schon deshalb muß Etatismus, Totalitarismus scheitern. Denn sie wenden sich an die rationale Beherrschung und Steuerung innersten Zustände. Wenn aber ein Mensch zu überlegen beginnt, was er alles beim Gehen, Essen, Schlafen, Verdauen, Lieben etc. zu tun hat, kann er es schon gar nicht mehr.




*160716*