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Dienstag, 28. Februar 2017

Moralismus als Dünger der Verfehlung

In "Bookleggers and Smuthounds" geht Jay A. Gertzman der Entwicklung der Pornographie als Handelsware in den USA 1920 bis 1940 nach. Denn es bleibt ein gewisses Rätsel, wie sich gerade in einem Land höchster puritanischer Präsenz ein derart prosperierendes Geschäft mit der Unmoral aufbauen konnte.  Und Gertzman kommt auf einen interessanten Schluß: Beide sind symbiotisch, beide brauch(t)en einander. 

Denn ohne die moralistische Reaktion der Puritaner hätte sich die Faszination der gedruckten (Text und Bild, später Film) Pornographie gar nie entwickeln können. Umgekehrt brauchten die Puritaner die Entrüstungskampagnen, um ihre Existenz im öffentlichen Leben, ihre Rolle in der Gesellschaft zu erneuern und aufrechtzuhalten. Es ist den puritanischen Abwehrbewegungen sogar zu verdanken, daß sich generell mit Sexualität die Assoziation mit Obszönität, schamhafter Verschwiegenheit verbunden hat. Etwas, das der abendländischen (genuin katholischen) Kultur fremd war. Jede Kirche bis in den Barock beweist, daß der Umgang mit Nacktheit und Sexualität völlig entspannt, wenn auch nicht prinzipiell aus seiner Ordnung gerissen war wie es sich mittlerweile darstellt. Aber das ist eher ein psychologisches, psychosoziales Problem.

So aber hat die Pornoindustrie, die sich damals zu entwickeln begann, den Moralismus als Marketingstrategie benutzt, um ihren Produkten jene Attraktivität anzuhängen, die die Umsätze rasch ansteigen ließ. In Wahrheit war nämlich Pornographie nie ein Massenmarkt, sondern Angelegenheit einer winzigen Minderheit, denn sie ist niemals Ausdruck eines gesunden sondern immer eines bereits erkrankten Verhältnisses zur Körperlichkeit. Die sich nur in Pseudologie, in einer von seinen tiefen Gründen bereits abgespaltenen, konstruierten Landschaft des Selbst überhaupt entfalten kann. Umso fataler, als in der Autoerotik die sexuelle Kraft betätigt wird, die bis in die tiefsten seelischen Schichten hinabreicht und insofern tatsächlich die Fundamente des Einzelnen umfaßt und erschüttert. Das zeigt also den wirklichen, existentiellen Ernst der Sexualität - entzieht sie aber genau dem Moralismus.*

Sodaß auch der Moralismus die Pornographie benutzte, ja sogar brauchte. Denn der Moralismus braucht den öffentlichen Feind, um sich seiner eigenen Reinheit und Vollkommenheit zu versichern, so wie er überhaupt eine Auslagerung des Selbst in ein Scheintheater darstellt, das jede substantielle Verfaßtheit unterdrückt, um sich in diesem Scheintheater der eigenen Gutheit zu versichern. So hat der Moralismus den Boden bereitet, auf dem Sexualität überhaupt in die Zweitwirklichkeit abwanderte und das, was wir heute als Pornographie erfahren, erst ermöglicht hat. 

So, wie die Entwicklung des Horror-Genres eine direkte Antwort auf unbewußte, in der öffentlichen Diskussion aber nicht aufgefangene wahrhaftige Reaktion auf Verhaltens- und Sichtweisen ist, sodaß es in direkten Zusammenhängen mit der sogenannten "sexual liberation" steht. Damit wird in einer aus dem Unterbewußten genährten, freilich unartikulierten (weil unartikuliert bleiben müssenden), nicht sprachlich gewordenen Abwehrreaktion eine Katharsis des Bewußtseins versucht wird, indem das Gewußte in eine verschlüsselte, symbolische Gestalt gebracht wird, die jede Abwehrreaktion verdient und auch hervorruft - und so das Selbst reinigen soll.

In der Pornographie wird dem Bewußtsein ein Theater der sexuellen Normalität vorgespielt bzw. dieses darein verwickelt. Weshalb sie sich zweifellos auf die reale Beziehungsfähigkeit auswirkt, zum einen, aber auch bereits eine Reaktion auf eine Beeinträchtigung dieser Beziehungsfähigkeit ist. Die ihre immer wieder aufladende Kraft aus den realen Begegnungen der Welt empfängt. Fehlen aber kulturelle, institutionalisierte Wege zu einer Erfüllung (Formverlust in den Beziehungen durch Ent-Definition, Ent-Konkretisierung), bleibt diese Kraft ungeformt und ungelenkt. Das Bewußtsein versucht sie nun in scheinbar reale Wege, in Konkretionen zu stellen. 

Deshalb geht Pornographie immer mit der Auflösung traditioneller Verhaltensweisen und Regelungen zwischen Mann und Frau zurück und ist für manche Formen der Sexualität (namentlich homoerotische Betätigungen, die in sich pseudologisch, zweitwirklich sind) überhaupt conditio sine qua non. Die in eine immer mannigfaltigere, umfassendere Sexualisierung des Alltags drängt, weil das gewissermaßen "innere Auge" für die wirkliche Erotik, die Sexualität als Dynamo der Entwicklung gesunder Zwischenmenschlichkeit erblindet ist, die Sexualität keine natürlichen Wege der Zielerreichung im Rahmen einer weit umfassenderen Gesamtpersönlichkeit und -zwischenmenschlichkeit findet, die ohne Ort (der das Verhalten bestimmt) nicht auskommt. Und durch die vermehrt auftretenden erotisch-sexuellen Anspielungen und Darstellungen, die mit diesem Defizit des Natürlichen spielt, dem bewußten Wollen Zielerreichung vorgaukelt. 

Sie sind damit immer Krankheitssymptom einer Kultur in ihrem letzten Stadium, in dem alles bereits diffundiert ist. Zumal umgekehrt die Pornographie in ihrer scheinbar mühelosen Erfüllungsverheißung der sicherste Weg zur Auflösung eines kulturellen Fundaments ist, wo dem Willen die Substanz des eigenen Seins und damit Wollens fehlt.**

Wie werden über dieses Kapitel noch eingehender handeln.




*Deshalb verdient auch der "sexuelle Fehltritt" aus Schwäche - wo Herr Mayer aus Haus 9 den verführerischen Augen der Nachbarin, die ihn im Vorbeigehen am Gang wie zufällig die Hand über die Schulter streichen ließ, einfach nicht widerstehen konnte - eine völlig andere (und durchaus diskretere) Einordnung als die Pornographie (auch wenn ersterer Fall prinzipiell natürlich Ehebruch bleibt.) Verdient zwar Ernst, ja kann sich dramatisch in den Folgen auswirken, hat aber nicht die ultimative Tragik des moralistischen Scheintheaters, sondern darf sich im nächsten Moment der Hoffnung ergeben, in Beichte, Sühne und Ablaß die Angelegenheit zu bereinigen. 

Das Gemeinte findet sich übrigens in dem Film "Mondsüchtig" (mit einem großartigen Ensemble, das eine berückend spielende Cher anführt, wobei sie von Olympia Dukakis als Mutter noch überboten wird, die eine Glanzleistung des Charakterspiels liefert) überaus charmant und richtig, ja gesund (und damit poetisch) dargestellt. Und so nebenbei das entzückende italo-amerikanische Milieu (New York) zeigt, Facette eines Ensembles von Ethno-Milieus, das Amerika einmal war. Aber es gibt auch ein "gesundes Sündigen", so falsch es bleibt. Liebe, Leidenschaft kann einbrechen, gewiß, aber sie ist grundverschieden von Pornographie und der Haltung der Übersexualisierung, in der jemand nur noch seinen erotischen Erfüllungsphantasien nachjagt. Ausgangspunkt in der Überwältigung durch Begegnung bleibt nämlich die reale Person, die den (bestehenden geistigen) Rahmen sprengt, bleibt wie im Film deshalb sogar die Ehe. Ein Rahmen, der der Pseudologie aber kontradiktisch ist, die ihn dimensional ausschließt.

**Erkennbar daran, daß auch dem größten Pornographiekonsumenten eine erfüllte, stabile Partnerschaft in einer Ehe - als einziger Weg zum Menschsein, weil in Ergänzung - das größte Ziel bleibt, dem gegenüber er allerdings mit der Zeit resigniert. Wenn man aus den Bestrebungen der Homosexuellen, "heiraten" zu dürfen, eines ablesen kann dann genau diese Tatsache.




*230217*